Abschiedsfarben von Bernhard Schlink – Von der Notwendigkeit, abzuschließen

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Collage von Birgit Steinborn

Ein plötzlicher Tod, eine Trennung, ein Umzug, ein Neuanfang – zahlreiche Auslöser im Leben verlangen uns Abschiede ab. Sie können uns unerwartet überfallen, lange geplant, gewollt oder ungewollt sein. Abschiede begegnen uns in unterschiedlichsten Ausprägungen und schließen oder öffnen uns Türen. Bernhard Schlink porträtiert diesen vielseitigen und kaum greifbaren Begriff in seiner Sammlung von Kurzgeschichten, die unter dem Titel „Abschiedsfarben“ im Juli 2020 erschien. Er macht dabei deutlich, dass ein Abschied mit weitaus mehr als einer tränenreichen Umarmung oder einem Händedruck verbunden sein kann.

Abschied und Schuld

Wenn man über den Inhalt des Buches schreiben möchte, stellt man schnell fest, dass das Abschiednehmen mit einem weiteren Begriff eng verknüpft zu sein scheint. Nicht nur der Abschied spielt in Schlinks Geschichten eine wesentliche Rolle, sondern auch die Schuldfrage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Der Verrat eines Fluchtversuches des besten Freundes an die Stasi, der Betrug am Ehemann im Sommerurlaub, das tatenlose Zusehen bei einem Mord oder das Nichterwidern einer Jugendliebe – Schuldgefühle durchleben die Protagonisten auf alle denkbaren nur allzu menschlichen Weisen. Jeder kennt das Gefühl von versäumten Chancen, vom Verletzen einer geliebten Person, vom Ungesagten, was nicht mehr gesagt werden kann. Kaum einer wird sein Leben durchleben, ohne jemals einen Menschen wehgetan zu haben. Schuldgefühle lassen sich wegschweigen, ja wegignorieren. Doch nicht selten holen sie uns irgendwann ein und man stellt fest, dass ein Abschied, der schon längst fällig war, nach einer Umsetzung schreit. Was hält uns davon ab, uns zu verabschieden?

Angst vor dem Loslassen

In Schlinks Geschichten stürzt sich keine Figur kopfüber in einen Aufbruch. Er zeigt vielmehr auf, warum wir es uns mit Abschieden oft nicht leicht machen. Abschiednehmen bedeutet loslassen und das, was geschehen ist, zu akzeptieren und sich selbst verzeihen zu können. Das erfordert Mut, Ehrlichkeit zu sich selbst und das Hinnehmen von Veränderung.

In der Geschichte „Das Amulett“ geht es um eine Frau, die vor vielen Jahren von ihrem Mann verlassen worden ist. Ausgerechnet mit dem Au-pair hat er sie betrogen – klischeehaft und demütigend und somit für sie unverzeihlich. Als ihr Ex-Mann an Krebs erkrankte und sie vor seinem Tod um ein Gespräch bat, keimte der Groll wieder auf. Diese Erlösung gönnte sie ihm nicht, sollte er doch mit seinen Schuldgefühlen sterben. Sie ließ sich dennoch auf ein Treffen ein und stellte danach fest, dass nicht sie ihn mit ihrer Distanz und Nichtachtung strafte, sondern sich selbst. Nicht zu verzeihen und ihre Verbitterung, verhinderten seit Jahren den Abschied, den sie gebraucht hätte, um sich auf etwas Neues einzulassen. Schlink macht uns deutlich, dass ein Abschied auch ein Abschluss ist, der für einen gelingenden Neuanfang notwendig ist. Auch negative Gefühle halten die Verbindung zu der verhassten Person stets aufrecht, mag sie auch nur im Kopf existieren.

Erlösende Abschiede

In „Der Sommer auf der Insel“ betrügt eine Frau ihren Mann in einem Sommerurlaub. Der Mann erinnerte sie an eine verlorene Liebe aus vergangenen Zeiten und sie sah es als Möglichkeit, diese nie gelebte Leidenschaft nun ausleben zu können. Nur für diesen Urlaub würde sie sich die Freiheit nehmen und danach wollte sie nie wieder etwas von dem Mann hören. Zunächst schämte sich der Sohn für seine Mutter, doch ihr offener Umgang damit machte ihn selbst von moralischen Bürden frei und öffnete ihm die Tür zu seinem Begehren. „Was schön war, konnte nicht falsch sein“ – mit dieser Lehre ließen beide den Urlaub voller erfüllter Sehnsüchte hinter sich und verwahrten ihre Geheimnisse auf der Insel. Die Mutter machte deutlich, dass Schuldgefühle manchmal nur entstehen, weil wir uns, von blinder Moral getrieben, das Schöne in der Welt vorenthalten. Sie verabschiedete sich so von ihrer Liebe, die vor langer Zeit keinen Raum fand und schloss das Kapitel ab, was für sie notwendig war, um glücklich zu sein. Auch Abschiede von auferlegten Pflichten und Handlungsmustern können den Weg in die Freiheit ebnen.

Neuanfänge

So unterschiedlich die dargestellten Lebensausschnitte der Protagonisten auch sind, so geht aus ihnen stets die Botschaft hervor, dass der Mut, sich zu lösen, für einen selbst und auch andere das Überschreiten der Schwelle zum Neuanfang ist. Diese Schwelle kann meist erst überquert werden, wenn man die Schuld hinter sich lässt. Letztendlich macht Schlink in all seinen Geschichten deutlich, die Bürde der Schuld hauptsächlich im Kopfe wächst und durch eine Aussprache jenes Hirngespinst schneller zu beseitigen ist als man es sich viele Jahre ausgemalt hat.

Warum lesenswert?

Nicht nur der Facettenreichtum an Abschieden, der in diesem Buch Raum findet, macht dieses Buch so lesenswert, sondern auch die Art des Erzählens von Bernhard Schlink. Seine Erzählungen sind detailliert und geben einem fast das Gefühl, dass es sich um ein biographisches Werk handeln muss, wenn man auf diese Weise jeden geistigen Winkel der Figuren beschreiben kann. Das Spiel zwischen schuldbehafteter Erinnerung und das aktive Abschiednehmen in der Gegenwart macht dem Lesenden deutlich, dass das Loslassen nicht die wahre Bürde ist, sondern das Leben mit einer Schuld, die man sich selbst auferlegt hat. Die Spannung der Geschichten entsteht durch die sich langsam aufbauende Erinnerung, nicht durch die aktive Handlung. Schlink weiß hervorragend mit der Neugierde seiner Lesenden zu spielen und gibt nur in kleinen Portionen preis, was das Unbehagen des Protagonisten ausgelöst hat. Man kann nicht genug bekommen von diesen Geschichten, die doch all die emotionalen Saiten in einem zum Klingen bringen, um die es sonst viel zu still geworden ist.

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Abschiedfarben von Bernhard Schlink (2020)

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