Der Achtsamkeits-Hype – Wie viel Ich-Zentrierung tut uns gut?

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Achtsamkeit liegt im Trend: Yogastudios werben mit dem ultimativen Weg zu sich selbst, in den Schaufenstern der Buchläden finden sich zahlreiche Meditationsratgeber, die den Schlüssel zum Erfolg liefern sollen und große Firmen bieten Achtsamkeitsseminare für ihre MitarbeiterInnen an, um den Stress im Arbeitsalltag zu reduzieren. Wohnungen werden mit Meditationsecken ausgestattet, in denen eine Buddha-Statue und auch die Klangschale nicht fehlen dürfen. Insbesondere unter Akademikern scheint es das Allheilmittel gegen Stress und das Gefühl von Sinnlosigkeit zu sein. Doch wie entstand dieser Trend? Tut uns die Besinnung auf uns selbst nur gut?

Der Ursprung der Achtsamkeit

Im Moment leben, mit allen Sinnen wahrnehmen und sich ausschließlich auf seine Wahrnehmung konzentrieren, diese aber nicht zu bewerten – das ist praktizierte Achtsamkeit. Emotionen, die uns gewisse Umstände bewerten lassen, stressen uns und schaffen eine innere Unruhe. Daher sollte man in einem Moment der Achtsamkeit diese Gefühle ausschalten und sich lediglich auf das Wahrnehmen konzentrieren.

Das ist eine Praxis, der eine lange Tradition vorausgeht. Achtsamkeit, oder auch mindfulness, wird in der buddhistischen Lehre bereits seit vielen Jahrhunderten praktiziert. Den Hype erfuhr diese ursprüngliche buddhistische Methode, die vorwiegend aus Aufmerksamkeitsübungen und Meditationen bestand, als der Professor Jon Kabat-Zinn die erste Stress Reduction Clinic in den USA in den 70er Jahren eröffnete. Er entwickelte das Programm Mindfulness-Based-Stress-Reduction und versuchte damit, den Zusammenhängen von Körper und geistigen Vorgängen auf den Grund zu gehen. Er stellte fest, dass sich durch Yoga und Meditation in seinen achtwöchigen Kursen Angst, Stress und damit verbundene Krankheiten deutlich reduzieren lassen.

Praktische Umsetzung

Auch wenn Yoga oder Meditation die Praktiken sind, mit denen Achtsamkeit meistens als erstes in Verbindung gebracht werden, geht es vielmehr um eine grundlegende Lebenseinstellung. Selbst morgens unter der Dusche kann man Achtsamkeit praktizieren, indem man sich ausschließlich auf das Wasser konzentriert, was auf den Körper prasselt. Den Moment bewusst erleben kann man in jeder Lebenssituation, es erfordert im Alltag jedoch sehr viel mehr Konzentration als während einer Meditation.

Mindfulness in Betrieben, Praxen und im Privaten

Um die geistige Leistungsfähigkeit und das körperliche Empfinden zu verbessern, erreichten Yoga- und Meditationsrituale nicht nur Studios, sondern auch die privaten Haushalte. Apps und Videos helfen bei dem Einstieg in die innere Balance und man benötigt lediglich einen ruhigen Ort in seinen eigenen vier Wänden. Eine Studie ergab, dass mittlerweile 15,7 Millionen Deutsche regelmäßig meditieren, die überwiegend einen akademischen Hintergrund haben. 95% der Praktizierenden nehmen wesentliche positive Veränderungen durch die Meditation wahr.

Diese heilende Wirkung nutzt auch die Psychotherapie für sich. Es scheint zuerst widersprüchlich, dass Meditation und Psychotherapie in Einklang zu bringen sind. Schließlich forciert die Psychotherapie das Durchdenken der Vergangenheit und die emotionale Verarbeitung derer, während Meditation nur die Gegenwart ins Blickfeld fasst. Doch um mit einer psychischen Erkrankung den Alltag besser bewältigen zu können, kann das wertfreie Fokussieren auf den Augenblick Angst, Panikattacken und Stress stark reduzieren. Vergangenes verliert dadurch an Bedeutung und behindert den Patienten weniger in seinem Alltag.

Auch in der Wirtschaft weiß man über die stressreduzierende Wirkung, die Meditation nachweislich auslöst. Überstunden, Druck durch Umsatzzahlen und der ständige Kampf, Familie und Arbeit in Einklang zu bringen machen Angestellte krank. Stress ist der Ursprung zahlreicher Krankheiten wie Rückenleiden, Migräne, Darmerkrankungen bis hin zu Herzproblemen. Krankentage kosten den Betrieb viel Geld, daher bieten immer mehr Meditations- und Yogakurse an. Weniger Stress gleich mehr gesunde Mitarbeiter gleich mehr Produktivität.

Ist Achtsamkeit nur ein weiteres Mittel zur Selbstoptimierung?

Was könnte also ein stressgeplagter und leistungsorientierter Mensch in der Schnelllebigkeit der Gegenwart Besseres tun als zu meditieren? Die Leistungsbereitschaft nimmt zu, man stärkt seine Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen und hat weniger mit Stresssymptomen zu kämpfen. Schlichtweg lässt uns Meditation besser funktionieren, noch besser in das System passen.

Kritiker des Achtsamkeitstrends sehen genau hier das Problem. Die starke Subjektzentrierung, also das Suchen für Ursachen von Stress in einem selbst, blendet zu schnell das eigentliche Umfeld aus. Ist ein stressiger Alltag einzig und allein unsere Schuld? Lassen sich äußere Strukturen, die vielleicht dazu beitragen, auf diese Weise nicht zu schnell ausblenden? Es ist leicht für ein Unternehmen, Stressbewältigungskurse anzubieten, statt Arbeitszeiten zu verkürzen, mehr Urlaubstage zu gewähren oder mehr Gehalt zu zahlen.

Meditation als politisches Sedativum

Der Soziologe Hartmut Rosa wirft der Ich-Zentrierung genau das vor. Achtsamkeit fördere eine unpolitische Haltung, die gesellschaftlichen Problemen nicht gerecht werde. Alles wertfrei zu betrachten, ist leider keine gute Grundvoraussetzung für politische und gesellschaftliche Diskurse. Vielmehr wirkt Mediation wie ein Sedativum, was uns viel akzeptieren lässt, was wir nicht akzeptieren sollten.

Empathielosigkeit

Studien ergaben, dass das regelmäßige Meditieren uns rationalere Entscheidungen treffen lässt. Wenn es für einen Konzern also von Vorteil ist, dass mehrere Mitarbeiter entlassen werden, dann fällt einen diese Entscheidung auf einmal leichter. Gefühle werden ausgeblendet und das kalkulierende Ich gewinnt die Oberhand. Die Studie zeigte auch, dass die Probanden direkt nach einer Meditation weniger Spendenbereitschaft zeigten als Probanden, die nicht meditierten. Empathie ist das Einfühlen in andere Menschen, was durch Achtsamkeit und das Fokussieren der eigenen Wahrnehmung abflaut. Auch eine Eigenschaft, die der Wirtschaft von Nutzen ist.

Besinnung auf uns selbst mit einem Blick für unser Umfeld

Achtsamkeit kann scheinbar schnell zur Unachtsamkeit führen. Auch wenn die Ich-Zentrierung in die stets individualistischer werdende Gegenwart passt, sollte man den Blick auch auf das große Ganze richten. Sicherlich ist jemand, der stressresistent und fokussiert ist, ein wertvolles Mitglied einer Gesellschaft. Doch ist es nicht der Blick auf den Anderen, der uns in der Schnelllebigkeit immer mehr abhanden zu kommen scheint? Wo bleibt das Wir in dem ganzen Kreisen um das Ich? Empathiefähigkeit und Mitgefühl ist das, was unser gemeinschaftliches Miteinander bereichert und wenn wir mal ehrlich sind, kann ein Zoom out aus dem ewigen Kreisen um sich selbst die eigenen Probleme relativieren und somit auch minimieren.

Es ist wahrscheinlich wie mit fast allem: Die richtige Mitte sollte gefunden werden. Die Balance zwischen der Wertfreiheit und bewussten Urteilen, dem Innenleben und der Außenwelt. Alles sollte Beachtung finden und weder eine radikal altruistische noch eine egoistische Haltung wird auf Dauer der Mehrheit dienlich sein oder dem Einzelnen zu einem glücklichen Leben verhelfen. Meditation sollte nicht in Passivität münden, die uns zu Marionetten von profitorientierten Unternehmen macht und uns den Blick für strukturelle Probleme verschleiert. Denn sonst wird sie uns langfristig nicht guttun.

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Interessante Dokumentation über Meditation auf Arte: https://www.arte.tv/de/videos/086129-028-A/xenius-meditation/

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