Niemand möchte eigentlich am Ende seines Lebens etwas bereuen; und doch ist es, wenn man diese Absicht näher betrachtet, ein recht ambitionierter Leitgedanke – oder gar unerfüllbares Reiseziel? Denn wohin leitet dieser Gedanke? Gibt er irgendeine Richtung oder Orientierung vor? Wie wollen wir leben? Wie will ich leben? Diese Evergreens philosophischer Fragen stellt sich früher oder später jeder Mensch. Bronnie Ware betrachtet das Bedürfnis nach Lebensgelingung aus einem zurückschauenden Blick-winkel, indem sie ihre Gespräche mit Sterbenden schildert.
Tod und Wahrheit: (K)eine leichte Reiselektüre?
Wahrheiten ermöglichen Gültigkeiten, die uns auf unseren Lebenswegen sowohl bestätigen als auch kritisieren können. Im letzteren Fall empfinden wir sie häufig als unbequem, weil sie sich außerhalb unserer Komfortzone befinden und von dort aus kritische Blicke auf die Inneneinrichtung unseres Wohnmobils oder die Route werfen. Und obwohl wir das vorgeschlagene neue Innenraumkonzept an sich sogar für gut befinden und schon bei der letzten Abzweigung nicht mehr ganz so sicher waren, scheuen wir dennoch lieber die kleineren wie größeren Umbauten und Neuausrichtungen.
Wo kein Kritiker da nichts Unbekanntes – positive Vibes only!?
Ähnlich ist es im Falle des Todes. Mag man damit auch im medialen Alltag regelmäßig konfrontiert werden – es sind doch meist uns fremde Verkehrstote, von denen wir – in sicherem Abstand – etwas hören, lesen oder sehen, sodass wir relativ leicht unkomfortable Berührungspunkte umfahren können. Doch was ist, wenn das Thema Vergänglichkeit die eigene Kolonne, die Bei- und Mitfahrer oder den Fahrer selbst betreffen und damit unsere abgesteckte Route infrage stellt?
Bronnie Wares Erfahrungsberichte
Die Australierin ist selbst eine Lebensreisende mit unkonventionellem Lebenslauf, die u.a. ihren Job in einer Bank kündigt und für einige Jahre in der Palliativmedizin mitwirkt. Häufig begleitet sie einzelne Patienten nebst deren Familien daheim. Im Voranschreiten der Lektüre lernt man mehrere dieser Menschen und deren Lebensgeschichten näher kennen. Da ist bspw. Stella, Grace, Anthony, John, Pearl oder Charlie, um nur einige zu nennen.
Es sind speziell die Gesprächsschilderungen und Dialoge zwischen Bronnie und diesen Personen, die dem Buch seinen Charakter verleiht. Das gemeinsame Philosophieren über Sinn und Unsinn des Lebens, das Eingestehen der individuellen unbequemen Wahrheiten am Lebensende und das dadurch mögliche Durchkommen zu den persönlichen Knoten- und Reibungspunkten verleiht dem negativ behafteten Thema u.a. eine erbauliche Atmosphäre – positive Vibes added!
5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen von Bronnie Ware, S. 224
„Zu den schönsten Dingen, die ich bei der Betreuung Sterbender gelernt habe, gehört die Erkenntnis, dass man die Fähigkeit zum Dazulernen bei keinem Menschen unterschätzen darf. Der Frieden, zu dem Elizabeth fand, war derselbe, den ich schon bei früheren Patienten beobachtet hatte.“
Kierkegaard: Was es heißt ein Selbst zu sein
Der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller hielt bereits im 19. Jahrhundert fest, dass man das Leben zwar vorwärts lebt, jedoch nur in der Rückschau verstehen könne. Er gilt als Vordenker und Inspirationsquelle für die deutschen und französischen Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts.
Für ihn ist die Angst zentraler Dreh- und Angelpunkt für die Lebensgelingung, denn sowohl zu viel wie auch zu wenig Angst verhindert die stetige Routenüberprüfung. Das richtige Maß könne hingegen den Menschen dazu ermuntern, die sicheren Pfade auch mal zu verlassen.
Das klingt in der Theorie einfacher als gedacht; jedoch kann man in Bronnie Wares Erfahrungsbericht zahlreiche Schilderungen von Menschen kennenlernen, die kurz vor dem Ziel feststellen müssen, dass deren Pfade und gewünschte Ziele nicht übereinstimmen.
Bronnie Wares Dreischritt: Angst – Mut – Zuversicht
Unabhängig der individuellen Rückschauen ihrer anvertrauten Patienten: Am Ende gibt es eine Überschneidung dahingehend, dass der Mut für ein kurz- bis mittelfristiges Verlassen der Komfortzone gefehlt hat, um langfristig eine glücklichere Lebensausrichtung gelebt zu haben.
Ja, wenn man den Mut hat, man selbst zu sein, und nicht die Person, die andere erwarten, benötigt man wahrscheinlich viel Kraft und Ehrlichkeit. Aber genauso viel Kraft wird es kosten, auf dem Sterbebett zu liegen und zuzugeben, dass man wünschte, man hätte anders gelebt. Ich hatte noch viele andere Patienten, dich ich hier nicht erwähnt habe. Aber das Bedauern über dieses Versäumnis, der Wunsch, sie wären sich selbst treu gewesen, war die Klage, die ich am öftesten zu hören bekam.
5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen von Bronnie Ware, S. 326 – 327
Die Reue der Sterbenden
Obwohl es sich bei dem Begriff der Reue um ein Bedauern über Getanes oder Unterlassenes handelt, konzentrieren sich die fünf Dinge allesamt auf Versäumnisse. Zu jeder der fünf Kategorien gibt es unterschiedliche Einblicke in die Biografien; sei es u.a. Grace, der die Loslösung vom Partner nicht gelang, Rosemary, die sich selbst zu wenig Freude im Leben zuerkennen wollte oder John, dem erst am Ende das Ausmaß seines Arbeitsethos bewusstwurde.
Neben der ausgebliebenen Treue zu sich selbst sind da noch die Konsequenzen aus einem Übergewicht an Arbeitszeit, verpasste Gelegenheiten den Gefühlen Raum gegeben zu haben, die eingeschlafenen Freundschaften oder das Versäumnis sich mehr Freude ins Leben geholt zu haben.
Lesenswert?
Es sind nicht unbedingt die fünf Dinge, die tief verborgene Geheimnisse über das Leben hervorholen. Die Gesamtschau erhält ihren Wert durch die Versäumnisse nebst deren biografischen Verästelungen und damit auch durch das „Wie“ der Erzählungen. Bronnie Ware gelingt es, dieses latent tabuisierte Thema behutsam und facettenreich zu entfalten. Man kann sich der Vergänglichkeit nähern, ohne dafür gleich die Komfortzone verlassen zu müssen.
Der Untertitel des Buches verspricht lebensverändernde Einsichten. In welchem Maße sich diese erzeugte Leseerwartung tatsächlich zeigt, muss an dieser Stelle der Leserschaft überlassen werden.
Einen Minuspunkt gibt es für das Zusammenspiel zwischen Titel und Erzählung. Man kann Wares Erfahrungsbericht in zwei Handlungsstränge unterteilen. Neben den 5 Dingen erfährt man auch in eingestreuten Unterkapiteln einige Dinge über Bronnies Innenwelt und ihren Lebenswegen. Beide Erzählstränge harmonieren zwar ganz gut miteinander, jedoch gibt das der Titel nicht wieder.
Bronnies eigene spirituelle Lebensanschauung schimmert dabei auch durch, ist aber dezent genug, sodass weder agnostische noch atheistische Leseflüsse stark irritiert würden.
Auch manchem Ende wohnt ein Zauber inne.
In diesem Sinne: Gute Reise …
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Weitere Informationen über Bronnie Ware findest du hier: https://bronnieware.com/
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