Bloß weg! – Über den Wertverlust des Reisens

Bloß weg 2
Collage von Birgit Steinborn

Spontan nach Mallorca fliegen, wenn das Wetter in Norddeutschland wieder zickig ist, in einem Monat um die Welt reisen, einen Städtetrip am Wochenende oder eine Minikreuzfahrt nach Oslo – noch nie fiel uns das Reisen so leicht wie heute. Die Billigairlines sorgen dafür, dass man auch mit einem kleinen Geldbeutel komfortabel die Ozeane in berauschender Geschwindigkeit überqueren kann, so schnell, dass man kaum merkt, was man alles hinter sich lässt. Kann man überhaupt davon sprechen, dass man etwas hinter sich lässt? Welchen Wert hat das Reisen noch, wenn das Gewohnte so mobil geworden ist, dass die Fremde nicht mehr fremd erscheint?

Erste Reisebewegungen

Das Reisen, wie wir es heute kennen, war für viele Generationen vor uns undenkbar. Im Mittelalter gelang das Erreichen einer fremden Stadt nur durch beschwerliche Wanderungen oder mit einem Ochsenkarren. Straßennetze waren kaum ausgebaut und schlechte Witterungsverhältnisse sorgten für schlammige und verschneite Wege. Überall lauerten Raubtiere und Wegelagerer, die den Reisenden den ohnehin schon nervenaufreibenden Weg erschwerten. Während uns heute unser Smartphone die Suche nach dem Weg oder Unterkünften erleichtert, musste ein Wanderer im Mittelalter zu seinem eigenen Schutz Flussüberquerungsmöglichkeiten, das Wetter und Herbergen genau kennen, um die Reise zu überleben. Durch die Mühen, die mit dem Besuchen fremder Orte verbunden sind, wurde nicht aus Vergnügen gereist, sondern um Waren zu transportieren und Handel zu betreiben.

Mit der Ausbreitung des Christentums nahmen die Pilgerfahrten zu. Sünden konnten durch lange Wanderungen und das Erreichen heiliger Orte beglichen werden. Auch zur Vertiefung des eigenen Glaubens oder als Ausdruck von Dankbarkeit unternahmen viele Christen eine Wallfahrt zu einer Pilgerstätte.

Da die Erde bisher weitestgehend unerschlossen war, motivierte auch die Entdeckerlust und Neugier einige Abenteurer zu waghalsigen Reisen. Bisher unbekannte Länder wurden erkundet und erschlossen und auch das Weltbild wurde reformiert. Der Gedanke, dass die Erde eine Scheibe sei oder im Mittelpunkt des Sonnensystems stehe, wurde von Entdeckern, Astronomen und Kartografen widerlegt. Eine neue Sichtweise pflanzte sich in die Köpfe der Menschheit: Die Erde ist rund, dreht sich um ihre eigene Achse und um die Sonne. Wer reiste, wollte die Welt erkunden und verstehen.

Bildung durch Reisen

Im Zuge der Aufklärung wuchs das Interesse an Bildungsreisen. Es galt als schick, die Metropolen und Hochburgen der Intellektuellen in Europa zu besuchen. Das Eintauchen in fremde Städte, insbesondere in Italien, sollte den Geist und Charakter bilden. Nicht wenige Intellektuelle dieser Zeit schrieben auf ihren Reisen Gedichte, Romane oder philosophische Abhandlungen. David Hume, Heinrich Heine und Johann Wolfgang von Goethe waren nicht die einzigen großen Denker, die sich von ihren Reisen haben inspirieren lassen und den Reisebericht als literarisches Format für sich entdeckt haben.  

Das Entdecken der Großstädte war aber nicht für alle bezahlbar und so konnten sich nur Wohlhabende den Luxus einer Bildungsreise leisten. Ärmere mussten auf viel Komfort, der ohnehin bei längeren Reisen kaum vorhanden war, gänzlich verzichten.

Die Geburtsstunde der Vergnügungsreisen

Im 19. Jahrhundert packte die Menschheit auf einmal das Reisefieber. Die nähere Umgebung reichte nicht mehr aus und ausgefallenere Ziele wurden angesteuert. Eisenbahn und Schiff dienten als beliebtes Verkehrsmittel. Fremde Länder mit exotischen Zielen waren besonders beliebt, da die Reisenden sich dort Spaß und Abwechslung erhofften. Das Reisen erhielt eine gewisse Leichtigkeit, wie der Film „In 80 Tagen um die Welt“, in dem der englische Gentleman Phileas Fogg um 20 000 Pfund wettete, dass er in 80 Tagen die Welt umrunden kann, zeigt.

Erst nach dem zweiten Weltkrieg konnten sich auch die Bürger mit einem schmaleren Geldbeutel die so beliebten Urlaube leisten. Das Wirtschaftswunder in den 50er Jahren spülte Geld in die Reisekassen und lockte die ersten deutschen Touristen nach Mallorca. Die Welt wurde auf einmal kleiner, überschaubarer und voller Überraschungen und Besonderheiten, die es zu entdecken galt. Seit jeher wächst die Tourismusbranche kontinuierlich.

Wie reisen wir heute?

Durch die Niedrigpreise von Flugreisen ist Urlaub auch für den Durchschnittsverdiener bezahlbar geworden. Das Internet gestaltet das Buchen von Reisen so leicht, dass kaum noch die Hilfe von Reisebüros in Anspruch genommen werden muss. Schnell und günstig sind die Kriterien, die zu einer Reise motivieren. Last Minute-Angebote verstärken die Entscheidungsfreude der Urlaubshungrigen und verleiten mit unschlagbar günstigen Preisen zu Buchungen, über die oftmals nicht mehr als ein paar Stunden nachgedacht werden.

Reisemotivationen

So gut wie jeder Winkel dieser Erde ist heutzutage problemlos erreichbar. Gleichzeitig machen Logistikunternehmen, das Internet und Telefone das Reisen für den Handel fast überflüssig. Insbesondere das Internet liefert uns die weite Welt kompakt im Bildschirmformat ins Wohnzimmer. Wozu reisen wir also heute noch?

Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart“ verschiedene Motivationen, die uns heute noch in ferne Länder treibt. Die unterschiedlichen Reisetypen charakterisiert er ungefähr so:

Die Akademiker Ursula und Hans-Georg sind in ihren besten Jahren: Die Kinder sind aus dem Haus, das jahrelange Arbeiten und Sparen macht sich auf dem Konto bemerkbar und ihr Interesse an Geschichte, Kunst und kulinarischen Besonderheiten wächst zunehmenden Alters. Pittoreske Stadtkulissen, alte Ruinen und Denkmäler, die sie mit einer durchorganisierten Tour entdecken, sind ihre Leidenschaft. Sie saugen die Erzählungen der Reiseleitung wie ein Schwamm auf und stellen viele Fragen. Ein bisschen wie zu Goethes Zeiten – nur bequemer und organisierter. Krampfiges Unterhaltungsprogramm im Cluburlaub oder überfüllte Strände auf Mallorca sind ihnen zuwider.

Der Sprössling von Ursula und Hans-Georg studiert Soziologie und sucht auf seinen Reisen nach dem Unerschlossenen. In dieser Welt ist das gar nicht so einfach. Ein großer Rucksack, spartanisches Gepäck und ein Hauch von Neugier sind Jans treue Weggefährten. Ob Yogakurse in einem asiatischen Tempel, indigene Märkte in Andendörfern oder die Slums von Rio de Janeiro – um der Authentizität eines Landes ein Stückchen näher zu kommen, nimmt er so einige Einbußen im Komfort in Kauf. Jan kauft keine langweiligen Schlüsselanhänger eines Wahrzeichens als Souvenir, sondern einen Pullover aus echter Alpacawolle, die eine bolivianische Chola frisch für ihn gestrickt hat. Und natürlich jede Menge Fotos für das Social Media Account.

Thorsten und Julia verstehen Jans Abenteuerlust nicht. Die wenigen Urlaubstage im Jahr lassen sie vor jeglichen Unbequemlichkeiten zurückschrecken. Der klassische Pauschalurlaub, bei dem man lediglich rechtzeitig am Flughafen sein muss, um in den Flieger zu steigen, ist ihre bevorzugte Art zu reisen. Eine gut ausgebaute Infrastruktur ist Voraussetzung für jedes Land, um auf ihre Top 10 – Reiseziele-Liste zu kommen. Sie aalen sich viele Stunden in der Sonne, lesen Bücher und ziehen sich abends gerne schick an für das Mottobuffet.

Ähnlich handhaben es auch Uschi und Werner, die Großeltern von Thorsten und Julia. Seit mehreren Jahren genießen sie nun schon ihre Rente. Jedes Jahr reisen sie zur gleichen Zeit in das gleiche Hotel, um auch in der Ferne ein Maximum an Geborgenheit und Gewohnheit zu erkaufen. Bloß keine Abwechslung! Sie genießen es, wenn das Personal des alljährlich besuchten Hotels mit ihnen Insiderwitze austauscht und sie namentlich kennt. Unglücklich macht es sie, wenn ihr Stammtisch frecherweise von anderen Urlaubsgästen besetzt wird oder sich jemand nicht an die Anstellregeln beim Buffet hält.

Wilder geht es bei Katharina zu. Auf der Suche nach dem ultimativen Kick begibt sie sich in schwindelerregende Höhen, lässt sich von gefährlichen Strömungen durch Flussengen schleudern und füllt abends ihren ausgepowerten Endorphinspeicher mit einem großen Eimer Sangria und Hits aus den Charts wieder auf. Lauter, schneller, höher – Erholung steht bei ihr nicht an erster Stelle.

Das Ziel ist das Ziel

Eins haben diese fünf Reisetypen alle gemeinsam: Es geht nicht um das Reisen, die Fortbewegung, das nach links und rechts schauen, das Spüren eines Weges, sondern das Ankommen steht im Mittelpunkt. Das Ziel ist das Ziel. Hindernisse, die das zeitige Ankommen am Urlaubsort verhindern, sind bittere Feinde des heutigen Urlaubers. Selbst die sogenannte Individualreise wird im Vorfeld akribisch geplant, so dass die Abenteuer am Wegesrand nicht allzu überraschend in den reibungslosen Ablauf der Reise hineingrätschen. „Urlaub“ machen diese Reisetypen. Ein Urlaub dient vornehmlich der Wiederherstellung der Arbeitskraft oder der Weiterbildung. Zu viele Informationen, zu viele Möglichkeiten und wenig Zeit zwingen uns in diese vorgefertigten Schablonen der Freizeitgestaltung.

„Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen“, sagte einst Goethe und spiegelt mit diesem Gedanken so gar nicht die Ideologie des deutschen Massentourismus wider. Selbst der Student, der sich auf die Suche nach Authentizität begibt, hetzt durch die Welt und nimmt sich wenig Zeit, um die Fremde auf sich wirken zu lassen. Das Smartphone sorgt für die stets direkte Verbindung zu dem Gewohnten und lässt wenig Raum für das so kostbare Abstandgewinnen, für das Eintauchen in andere Denkweisen, für das Spüren von Distanz, Neugier und auch Angst. Heute spielt das Erleben keine große Rolle mehr, sondern das Erzählen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Beraubt einen das Hochladen von Urlaubsbildern im Minutentakt nicht um das eigentliche Erlebnis? Die Außenwirkung hat oberste Priorität und der eigentliche Gedanke des Reisens, nämlich sich zu bilden, sich zu verändern, zu reflektieren, gerät immer mehr in den Hintergrund.

Die Kunst des langsamen Reisens

Dan Kieran, ein britischer Reisejournalist, wurde durch seine Flugangst zum Umdenken gezwungen. Sein Buch „Slow Travel – Die Kunst des Reisens“ ist ein Loblied auf das langsame Reisen. Er beschreibt in seinem Buch, wie er sich von dem Massentourismus abwendet und den Weg wieder in den primären Fokus seines Reiseziels gerückt hat. Das Ungeplante ist das, was für ihn eine Reise kostbar macht. Als Fortbewegungsmittel dienen ihm Bahn, Schiff, Fahrrad und seine Füße. Uns ist jegliches Gefühl für Distanz abhandengekommen, denn wir beamen uns fast in Lichtgeschwindigkeit rund um die Welt. Es wird Zeit, dieses Tempo zu drosseln! Kieran befürchtet, dass für viele Reisende der Urlaub nur noch eine lästige Pflicht sei, die man durch das Überangebot an Billigflügen und um mitreden zu können, ertragen müsse.

Ein bewussteres Erleben, was nicht an Reizüberflutung zu ersticken droht, wünscht sich Dan Kieran. Weg mit den Reiseführern, die bei uns einen Tunnelblick erzeugen und mehr Mut, um selbst zu entdecken! Nicht nur für die Umwelt wäre das langsame Reisen eine wertvolle Alternative, sondern auch für unsere Psyche. Es ist nicht notwendig, in die weite Ferne zu reisen, denn oftmals ist das nächste Umfeld von uns noch gar nicht entdeckt worden. Ist unser Hauptgrund für den Antritt einer Reise nicht das Fliehen aus dem Alltag? Warum lassen wir unseren Urlaub dann so sehr zu einer Alltagserfahrung werden? Stressige To do-Listen mit Sehenswürdigkeiten diktieren uns den Tagesablauf oder die alltäglichen Routinen werden einfach mit in den Urlaub genommen. Nur durch das radikale Entfernen von dem Gewohnten bietet uns einen Mehrwert auf Reisen, der nachhaltig ist. Erst dann kann man sich selbst von außen betrachten, in sich hineinhören und prüfen, ob man sich noch auf dem richtigen Lebensweg befindet. Also: Traut euch was und werdet zu Reisenden ohne Urlaubskorsett! Springt ohne Smartphone, Reiseführer und Alltagsroutine in die wahren Abenteuer des Lebens und beeilt euch nicht.

Slow Travel – Die Kunst des Reisens von Dan Kieran (2012)

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