1974, ein Jahr nach dem Tod des Dichters und Schriftstellers Pablo Neruda, erschien das Libro de las preguntas. In diesem kleinen Gedichtband findet sich eine Sammlung der Fragen, die Neruda im Laufe des Lebens der Welt gestellt hat. 2022 erschien dieses Werk auf Deutsch und wurde illustriert von der katalanischen Künstlerin María Guitart.
Wenn man die ersten Seiten des Buches liest, erwischt man sich schnell dabei, die weiteren Seiten zu überfliegen, um zu prüfen, ob tatsächlich ausschließlich Fragen in diesem Werk verdichtet wurden. Und ja, diese Vermutung bestätigt sich bei einem flüchtigen Blick auf die kommenden Seiten. Zu sehr lösen Fragen bei uns das Bedürfnis nach Antworten aus. Neruda ignoriert dieses Verlangen und stößt den Lesenden vor den Kopf, indem er sie vor zahlreiche Rätsel des Lebens stellt.
Die Inhalte dieser Fragen beziehen sich thematisch nicht auf etwas Bestimmtes. Nahezu alle Themenbereiche werden abgedeckt, nur eines haben sie alle gemein: Sie sind nicht zu beantworten.
„Bin ich schon tot und weiß es nicht, wen frage ich, wie spät es ist?“
Das Buch der Fragen, Pablo Neruda
Neruda stellt Fragen nach der Herkunft der Farben in der Welt, wer die Länge von Monaten festgelegt hat oder welche Arbeit Hitler in der Hölle verrichten muss – Fragen, die sich sicherlich viele schon selbst gestellt haben. Systematisch geht Pablo Neruda nicht in seinem Gedichtband vor. Die Themen erscheinen willkürlich aneinandergereiht. Sie stoßen an eine Grenze des Wahrnehmbaren, des wissenschaftlich Ermessbaren und dringen vor in einen metaphysischen Bereich, der für uns unbeantwortet bleibt.
In der Philosophie wird das Arbeiten mit Fragen bereits seit langer Zeit praktiziert. Eindeutige Antworten gibt es kaum welche, da stellt man sich die Frage, warum dann die vielen Fragen? Fragen zeigen uns auf, wo die Grenzen unserer Wahrnehmung, unserer Erkenntnis liegen. Es gibt eine bestimmte Grenze zwischen sinnlich wahrnehmbarer Welt und einem Universum, das dahinter liegt. Jeden reizt es zu erfahren, was nach dem Tod passiert oder ob es eine höhere Macht gibt, die uns lenkt. Diese Fragen kommen auf, werden aber unbeantwortet bleiben.
Buch der Fragen ist ein besonderer Gedichtband. Man findet hier keine in sich geschlossenen Gedichte vor, sondern lediglich eine willkürlich erscheinende Aneinanderreihung von Fragen. Man sollte sich die Zeit nehmen, diese wirken zu lassen. Jede einzelne löst einen Gedankenstrom beim Lesenden aus. Es wird wenig vorgegeben, keine Antworten serviert, sondern nur ein Impuls zum Denken gegeben. Einige Fragen werden einen sinnlos oder missverständlich erscheinen, andere werden einen den Tag nicht mehr loslassen. Eines wird jedoch deutlich: Neruda zeichnet hier die Grenzen unserer Wahrnehmung auf hinter denen man nur mit Fragen und Mutmaßungen zum Kern vordringen kann.