Wie der Zitronenzweig auf den Orangenbaum gesteckt wurde, so wurde Mathilde in das marokkanische Landleben geworfen. Der „Zitrangenbaum“ erzeugt nur ungenießbare Früchte. Ebenso wie Amine und Mathilde. Am Ende des zweiten Weltkriegs lernten sich die stämmige Elsässerin und der gedrungene, attraktive marokkanische Soldat der französischen Armee kennen und lieben. Doch für ein harmonisches Miteinander der zwei so unterschiedlichen Kulturen bedarf es mehr als nur Liebe. Leila Slimani beschreibt in ihrem Roman „Das Land der Anderen“ die Geschichte ihrer Großeltern.
Der Krieg neigt sich dem Ende. Amine, der gebürtige Marokkaner, der für die französische Armee kämpft, wird in dem Heimatdorf im Elsass von Mathilde stationiert. Der gemeinsame Kampf an der Front von Frankreich und den Kolonien, lässt Mathilde und Amine für kurze Zeit die Unterschiede ihrer kulturellen Hintergründe vergessen. Sie verlieben sich und heiraten am Ende des zweiten Weltkriegs.
Das ungleiche Paar, sie einen Kopf größer als Amine, blond und robust, er dunkelhäutig und wohl definiert, merkte erst bei der Ankunft in Marokko, dass die Unterschiede nicht nur aus Äußerlichkeiten bestanden. In der französischen Kolonie spitzt sich in den 50er Jahren der Kampf um Unabhängigkeit zu. Das Volk spaltet sich in französische Siedler und marokkanische Einheimische. Ihre französisch-marokkanische Ehe will nicht so richtig in eines der beiden Lager passen.
Im Haus von Amines Mutter beginnt das neue Leben für Mathilde. Das kleine Haus wird von vielen Familienmitgliedern bewohnt und bietet wenig Raum für Privatsphäre. Doch schon bald sehnt sich Mathilde nach dem zwar engen, aber geselligen Leben zurück. Amine hat Land abseits von Meknès geerbt und will den steinigen und trockenen Boden in fruchtbares Land umwandeln. Die Einsamkeit der Farm schlägt Mathilde aufs Gemüt. Sie bringt dort ihre beiden Kinder Selim und Aicha zur Welt. Auch in Aicha spiegelt sich die unterschiedliche Herkunft ihrer Eltern wider. In einer christlichen Schule steht sie stets zwischen den Stühlen: Die französischen Mitschülerinnen wollen nicht mit ihr befreundet sein, dennoch fühlt sie sich dem christlichen Glauben zugehörig.
Auch die devote Haltung der marokkanischen Frauen will nicht zu Mathildes stürmischen Gemüt passen. Sie ist leidenschaftlich, emotional und eine Genießerin. Das scheint marokkanischen Frauen in den 50er Jahren jedoch verwehrt zu sein. Zwar muss sie feststellen, dass sie verschleiert nicht mehr für ihr europäisches Aussehen schief angeschaut wird, dennoch fühlt sie sich fremd. Die Werte, die Mathilde in ihrer Heimat wichtig waren, scheinen immer mehr in den Hintergrund zu geraten. Das harte Landleben stumpft sie ab und reißt sie immer tiefer in eine Identitätskrise.
„Mit gesenktem Blick, den Schleier bis über die Nase hochgezogen, hatte sie das Gefühl zu verschwinden, und sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Wenn diese Anonymität sie auch schützte, ja sogar berauschte, war sie doch wie ein Abgrund, in dem sie wider Willen immer tiefer versank, und ihr schien, als verlöre sie mit jedem Schritt ein wenig mehr von ihrem Namen, ihrer Identität, als verbärge sie, indem sie ihr Gesicht verbarg, einen wesentlichen Teil ihrer selbst.„
S.112 in Das Land der Anderen
Nicht nur Mathilde und ihre Tochter kämpfen um Zugehörigkeit, sondern auch ihr Mann Amine. Als Soldat und Ehemann für das Land, was seine Heimat als Kolonialmacht besetzt, steht er stets zwischen den Fronten. Er schämt sich für das Wesen seiner Frau, was nicht in die Kultur seiner Heimat passt. Die christlichen Bräuche sind ihm zuwider und er duldet sie aus Liebe zu Mathilde. Von den französischen Siedlern wird er herablassend behandelt und die Marokkaner sehen ihn als Vaterlandsverräter – er scheint genauso fremd in seiner Heimat zu sein wie Mathilde.
In dem ganzen Buch will niemand so richtig in seine Rolle passen. Ob es die Mutter von Amine ist, die abgestumpft sich der angemessenen Unterwürfigkeit der Frau in Marokko hingibt, Selma, die Schwester von Amine, die von ihren Brüdern regelrecht in ihre Rolle als Ehefrau hineingeprügelt wird oder die kluge Aicha, die zwischen den Kulturen ihrer Eltern hin- und hergerissen ist. Glücklich ist niemand. Die Geschichte des französisch-marokkanischen Ehepaars macht deutlich, dass das Fremdsein viele Facetten hat. Sogar in seinem eigenen Heimatland kann man das Gefühl von Zugehörigkeit verlieren, wie am Beispiel von Amine deutlich wird.
Aicha, die sich dem Leid der unterdrückten marokkanischen Bevölkerung bewusst ist, fällt es schwer, Sympathien gegenüber ihren Mitschülerinnen zu empfinden. Andererseits klärt sie ihre Klassenkameradinnen auch nicht auf, als sie ihren Vater an ihrem Geburtstag als Chauffeur bezeichneten.
Leila Slimani wuchs selbst in Marokko auf und lebt mittlerweile in Frankreich. Das Fremdsein ist ihr also durchaus bekannt, was in ihrem Roman Das Land der Anderen deutlich wird. Mit viel Empathie beschreibt sie das Leben ihrer Großeltern. Einfach, romantisch und voller Abenteuer stellte sich Mathilde ihr Leben mit ihrem geliebten Amine in Marokko vor. Doch die Leidenschaft hat zwischen der harten Landarbeit und den patriarchalen Strukturen keinen Platz. Slimani beweist Sensibilität. Für keine Figur wird Partei ergriffen, denn alle Handlungen sind durch kulturelle Prägung und ihre Vorgeschichte determiniert.
Das Land der Anderen ist ein stiller Roman, der nicht durch eine rasante und spannende Handlung so wertvoll ist, sondern durch seine Feinfühligkeit für Kulturen. Die Autorin emotionalisiert nicht, sie schreibt nüchtern, was die Wirkung auf den Leser nur potenziert. Man spürt die Dürre von Marokko beim Lesen, die Schmerzen von Mathilde, wenn sie ihr Weihnachtsfest vermisst, die Zerissenheit von Amine und den Hass von Omar auf die Siedler. Das Gefühl des Fremdseins ist komplex und scheint manchmal schwer nachvollziehbare Charakterzüge freizulegen. Slimani sieht keinen davor gefeit. Ob in der eigenen Heimat, der Familie oder in der Fremde – fremd sind wir alle irgendwo.
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, dann vielleicht auch diese:
Altes Land von Dörte Hansen – Die Neuerfindung des Heimatromans
Heimat in einer globalisierten Welt? – Die Wurzeln eines Kosmopoliten
Hier geht die Autorin selbst auf die Hintergründe des Romans ein:
https://www.youtube.com/watch?v=_nEnvOpbtzY&t=301s&ab_channel=ttt-titelthesentemperamente
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
[…] Vollständige Rezension: Das Land der Anderen von Leila Slimani: Fremd sind wir alle irgendwo […]
[…] Das Land der Anderen von Leila Slimani: Fremd sind wir alle irgendwo […]
[…] Das Land der Anderen von Leila Slimani: Fremd sind wir alle irgendwo […]
[…] Das Land der Anderen von Leila Slimani: Fremd sind wir alle irgendwo […]