Das Unerwartete von Joyce Carol Oates: Wie hätte unser Leben auch verlaufen können?

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In 15 Kurzgeschichten konfrontiert Oates ihre Protagonistinnen und Protagonisten mit einem alternativen Lebensweg. Was wäre passiert, wenn ich mich aus meiner Heimat herausgetraut hätte? Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich meine erste große Liebe für mich gewonnen hätte? Fragen, die sich wohl jeder, insbesondere bei der Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, einmal stellt.

Das Unerwartete

Sobald man auf die Welt kommt, wird man dazu aufgefordert, sich zu seinem Umfeld zu verhalten, einen Weg zu beschreiten, der über unser Wesen bestimmt. Wie eng Charakter und Lebensentscheidungen miteinander verknüpft sind, macht Joyce Carol Oates in ihren Kurzgeschichten deutlich. Immer wieder dient als Schauplatz der Geschichten das Purple Onion Café. Verabredungen mit Freunden spiegeln dem Protagonisten oder der Protagonistin wider, dass sie in eine bestimmte Abhängigkeit geraten sind. Sie sind neidisch auf den Erfolg des Freundes, ihnen wird auf einmal bewusst, dass sie ihnen eigentlich misstrauen. Auch das Treffen mit dem eigenen Ich inszeniert Oates und zeigt dem Protagonisten so auf, welch düstere Abgründe tief in seinem Inneren verborgen sind.

In der Geschichte Mairead besucht ein alternder Professor seinen geliebten Sehnsuchtsort in Italien mit seiner Frau. Mit hohen Erwartungen kommt er dort an, wird dort aber lediglich mit einer in die Jahre gekommenen Touristenstadt konfrontiert, die an allen Ecken marode wird. Zunehmend wird deutlich, dass der Professor mit seiner Vergänglichkeit auf dieser Reise konfrontiert wird. Sein damaliger Mentor ist nur noch als eine Wachsfigur in einem Museum anzutreffen.

Konfrontation mit alternativen Realitäten

Wie viel Einfluss haben die Umstände, in die wir hineingeboren werden, auf unser zukünftiges Leben? Die Figuren in den 15 Kurzgeschichten könnten unterschiedlicher kaum sein. Eine verübt einen Bombenanschlag, die andere sitzt in ihrem Heimatort fest. Was in jeder Geschichte deutlich wird, ist dass die Konfrontation mit etwas Unbekanntem, das Beschreiten neuer Pfade, die einen vielleicht glücklicher gemacht hätten, häufig mit Angst verbunden ist. Selbstzweifel und der starke Einfluss des gewohnten Umfelds, sorgen für Passivität bei den eigenen Lebensentscheidungen.

Dennoch stellt Oates das Leben der Figuren nicht so dar, dass der alternative Weg der bessere gewesen wäre. Es sind vielmehr wertfreie Gedankenspiele mit der Kausalität, die den Lesenden selbst entscheiden lässt, was wohl die richtigen Entscheidungen gewesen wären.

Lesbar?

Diese Gedankenspiele sorgen aber durchaus für jede Menge Verwirrung. Oft gleitet Oates in die Fantastik ab, die aber so eng verwoben mit der Realität erscheint, dass man kaum noch eine klare Trennung vollziehen kann. Was sind Tagträume? Was erlebt der Protagonist wirklich? Wer sich von Verwirrung nicht abschrecken lässt, wird seine Freude mit dem Kurzgeschichtenband haben. Es lädt zum Grübeln über die eigenen Lebensentscheidungen ein und zum Spielen mit den „Was wäre, wenn“ – Fragen. Dabei stolpert man nicht selten über seine eigenen Ängste, die einen den einen oder anderen Weg verschlossen haben.

Das Unerwartete von Joyce Carol Oates
348 Seiten
15 Euro

Wer sich für die Autorin interessiert, sollte sich diese wunderbare Arte-Doku anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=R3_V7jVcBIw

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