Was geht in einem vor, wenn man sich eine Nacht in einem Museum einschließen lässt? Im Rahmen eines Projektes wagt die Autorin Leïla Slimani das sonderbare Experiment. Kein besonderes Interesse an Kunst lockt sie in das Museum Punta della Dogana in Venedig, sondern vielmehr das psychologische und philosophische Interesse am Eingeschlossensein. Ein sehr persönliches, fast essayistisches Büchlein ist dabei entstanden, in dem sich die Autorin hinterfragt: Warum schreibe ich? Wohin gehöre ich und woher komme ich?
Seit langer Zeit wird eine Nacht im Museum von Schriftstellern romantisiert. Umgeben von den großen Werken bedeutsamer Künstler küsst einen die Muse im Schlaf. Slimani steht dem außergewöhnlichen Schlafzimmer eher skeptisch gegenüber: Intim wurde sie bisher nie so richtig mit Kunst. Eher sprachlos und ehrfürchtig machen sie die Bilder, denn wirklich Ahnung von Kunst hat sie nicht.
Auch wenn die französische Autorin keine tiefgreifenden Gedanken zu den Kunstwerken hegt, so liefern sie ihr vielmehr Denkimpulse, ihr eigenes Leben zu reflektieren. Das Buch ist daher weder ein Roman noch ein stringentes Sachbuch, sondern ein Mosaik aus Gedanken, die Slimani spontan in den Kopf kommen. Dabei redet sie vom Schreiben, von einem Kunstverständnis, ihrem Aufwachsen in Marokko und einem besonderen Verhältnis zu ihrem Vater.
Schreiben bedeutet für Slimani, „Nein“ sagen zu können. Es ist eine einsame Tätigkeit, die sich sozialem Vergnügen entsagt. Wer schreibt ist an den Schreibtisch gebunden und an seine Konzentration. Wie Fesseln legt sich die Angst vor dem ungeschriebenen und manchmal auch geschriebenen Wort um Handgelenke und Füße. Doch gleichzeitig schafft einen das Abtauchen in die literarische Welt Freiheit. Es ist ein Ort ohne Regeln und Moral. Jeglicher Anstand und Höflichkeit verfälscht das, was man eigentlich sagen will, denn ist nicht Literatur genau diese haltlose Stimme in uns, die die Wahrheit ausspricht, ohne über Konsequenzen nachzudenken? Erst die Figuren, die sich nicht an Klischees und dem Richtigen orientieren sind die, die uns aus der Seele sprechen und interessant werden.
„Mein ganzes Leben wird von diversen „ich muss“ diktiert. Ich muss schweigen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss sitzen bleiben. Ich muss meine Bedürfnisse unterdrücken. Schreiben heißt, sich Fesseln anlegen, doch aus diesen Fesseln selbst erwächst die Möglichkeit einer ungeheuren, schwindelerregenden Freiheit.“
Leila Slimani in „Der Duft der Blumen bei Nacht“, S.14
Während sie sich in der Literatur seit jeher beheimatet fühlt, kennt sie Kunstmuseen erst seit ihrem Eintritt in die westliche Welt. Und genau dafür stehen für Slimani die großen Gemälde unserer Zeit: Für eine elitäre wohlhabende Gesellschaft. Doch nicht nur das ist es, was Kunst für sie ungreifbar macht, sondern auch der Zwang, etwas darin sehen zu müssen. Wie sie selbst in diesem Buch beschreibt, gilt ihr Interesse vielmehr den Menschen, die sie anschauen oder dem Nachtwärter im Museum.
Slimanis Kunst entsteht aus genauen Beobachtungen der Menschen und dem, was sie in ihnen sieht. Welche Hoffnungen und Sehnsüchte, welche heimlichen Ängste und Macken sieht sie in ihren Handlungen und Augen? All das Ungesagte ist die wahre Kunst des Schreibens – Grauzonen in Sprache zu gießen, ohne sie explizit zu nennen.
In Marokko aufgewachsen und jetzt in Frankreich lebend fühlte sie sich stets hin- und hergerissen zwischen den Kulturen. Sie wurde zu liberal erzogen, um sich mit Marokkanerinnen identifizieren zu können. Dennoch ist ihr die Hektik und Rationalität der westlichen Welt oftmals zuwider.
Slimanis Vater war Chef einer großen Bank in Marokko und musste aufgrund eines Bankenskandals fälschlicherweise ins Gefängnis. Danach sei er ein gebrochener Mann gewesen, so seine Tochter. Zu sehen, wie das Oberhaupt der Familie in sich zusammenfällt und seinen Lebensabend auf einem Sessel fristet, hat sie das Kämpfen gelehrt. So kam sie zum Schreiben, das für sie nicht nur ein Beruf ist, sondern ihre Erfüllung, ihre Identität.
Der Duft der Blumen bei Nacht ist kein Buch, das man zusammenfassen sollte. Auf seinen 157 Seiten taucht man tief in die Gedanken der französischen Autorin ein. Da es mehr eine Aneinanderreihung von Assoziationen sind als eine Handlung, fällt es schwer, den wahren Inhalt dieses Buches wiederzugeben. Insbesondere die vielen kleinen Anekdoten sind die, die diesen Erfahrungsbericht ausmachen. Denn wie Slimani selbst sagt, sind es doch die Grautöne, die ein gutes Buch ausmachen. Und in diesem Buch ist es die Möglichkeit, in diesen klugen Kopf hineinzuschauen und zu verstehen, woher diese Vorliebe für Klarheit kommt, zu erkennen dass das Geheimnis von Slimanis Büchern ihr offener und unverfälschter Blick auf die Welt ist.
Weitere lesenswerte Bücher der Autorin:
Dann schlaf auch du von Leïla Slimani: Was für Eltern wollen wir sein?
Das Land der Anderen von Leila Slimani: Fremd sind wir alle irgendwo