Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem? von Jorge Bucay

Bucay

Der deutsche 2016 verstorbene Publizist und Fernsehmoderator Roger Willemsen komprimierte die Herangehensweise an das Leben wie folgt: „Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.“ Was hat das mit Jorge Bucay zu tun? Nun, eine ganze Menge!

Zunächst ist Bucay auch als Schriftsteller äußerst produktiv und war im südamerikanischen Raum ebenfalls im TV präsent. Vielmehr ist über diesen argentinischen Psychotherapeuten in Deutschland nicht bekannt; außer, dass er in seinem Heimatland zu den führenden Gestalttherapeuten zählt.

Während Willemsen vor einigen Jahren für seine Wortakrobatik als Literaturpapst bezeichnet wurde, beschreibt die Neue Züricher Zeitung Bucays Schreibstil als heilende Erzählkunst. Er sei ein Meister der pointierten Anekdote, charmant, witzig und schlagfertig.   

Drei Fragen – eine verdichtete Ordnung

Bekanntlich ist der Weg das Ziel. Jedoch erzeugt diese vermeintliche Weisheit häufig nicht mehr als ein Achselzucken beim Gegenüber. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Leitgedanke sein Dasein als Kalenderspruch fristet und eher als inhaltsleere Worthülse aufgefasst wird. Schaut man aber mal einen Moment länger in diese Worthülse, so entpuppt sie sich scheinbar vielmehr als ein Fass ohne Boden; denn heutzutage steht uns eine Vielzahl an Möglichkeiten offen, was die eigene Lebensgestaltung anbelangt; und von der Gestaltung hängt notwendigerweise auch das Gelingen unseres Lebens ab.

Dem singulären zielführenden Weg gehen folglich pluralistische Vorüberlegungen hinsichtlich der vielen möglichen Wege voraus. Wie bzw. nach welchen Kriterien soll man sich also entscheiden? Und wann bzw. wie merke ich auf dem Weg in der eingeschlagenen Richtung, dass vielleicht ein Richtungswechsel vorgenommen werden müsste. Muss überhaupt eine Kurskorrektur vorgenommen werden? Spätestens hier ziehen die freien Gedanken ungeordnet ihre Flugbahnen in unserem Bewusstsein und auch gerne im Gemüt, sodass nicht selten aus dem ordentlichen Leitgedanken ein chaotisches Leidgedankenkonstrukt erwächst und sich manch einer die Hoffmann von Fallersleben´schen Jäger herbeiwünscht, in der Hoffnung, sie könnten doch Gedanken erschießen.

Mit Bucay muss man die vielen unübersichtlichen Gedanken aber zum Glück nicht vom Bewusstseinshimmel holen, man muss sie lediglich zu zusammenhängenden Bündel ordnen, um wieder eine Übersicht in der Lebensbewältigung erfahren zu können. Demzufolge wirken die drei Fragen sowohl je für sich als auch im Zusammenhang tiefgehend, da Bucay eine wohlwollende Konfrontation mit ihnen wie folgt provoziert:

„Es handelt sich um die drei existenziellen Fragen, die die Menschheit beschäftigen, seit sie begonnen hat, logisch zu denken. Fragen, die sich unweigerlich auf jedem der eingeschlagenen Wege stellen und daher nicht umgangen werden können. […] Denn nur wer aufrichtig nach ihrer Beantwortung sucht, lernt all das, was für das spätere Weiterkommen unverzichtbar ist.“

Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit Wem?. 7. Auflage 2020, S.10.

Behagliche erzählerische Reihenfolge des Unumgänglichen

Selbstflucht in die unterhaltende Zerstreuung ist uns allen vertraut, weil sie nicht zuletzt angenehm wirkt. Allerdings macht es einen Unterschied, ob diese angenehme Selbstvermeidungsstrategie kurz-, mittel- oder langfristig immer wieder betrieben wird. Ferner könnte man noch die Qualität der Intensität von beruhigend bis medial-betäubend einstufen. Im Grunde wissen wir ja alle, dass das Federkleid der Wahrheit unbequem sitzt – zumindest am Anfang der Anprobe.

An dieser Stelle kommt die heilende Erzählkunst zur Geltung, denn Bucay versteht es, den Leser auf  zu entdeckende Gedankenflüge einzuladen, zu welchen allerdings viel Wert auf die Reihenfolge gelegt wird.

„Mit anderen Worten, jede dieser Fragen konfrontiert uns mit der zwingenden Aufgabe, Antworten darauf zu finden. Das Bewusstsein zu schärfen für einen Prozess, der zwar oft über verschlungene und sich überschneidende Wege ablaufen mag, die sich aber immer wieder deutlich abzeichnen und in ihrer immer gleichen Abfolge begangen sein wollen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?“ Drei Aufgaben, drei Wege, drei Fragen, die es strikt der Reihe nach zu beantworten gilt.“.      

Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit Wem?. 7. Auflage 2020, S.11.

Wer sich an dieser Stelle an dieser strikten Reihenfolge stört, der sei dazu eingeladen, vor dem Hintergrund der gesündesten Reihenfolge andere Anordnungen gedanklich durchzuspielen.

Wer unverändert oder bedingt durch alternativ durchgespielte Anordnungen bei der Bucay´schen Reihenfolge geblieben ist  bzw. wieder ist, dem sei gesagt, dass diese Fragen im Grunde die Gedankenflugrichtung vorgeben. Unter jeder Frage befindet sich ein sortiertes Bündel an Unterkapiteln, die wiederum hier und da weitere Unterkapitel beinhalten. Insgesamt sind sie allesamt pointiert beschrieben, sodass eine Übersicht unmittelbar gegeben ist.

Die erwähnte Bewusstseinsschärfung ist dabei gar kein bewusster Akt, der von Bucay vorgenommen wird, sondern vielmehr ein beiläufiges Produkt während der Lektüre, was insbesondere mit dem Schreibstil zu tun hat. Bucay versteht es, den Leser durch abwechselnde Szenarien in der Flugbahn zu halten; sei es mit Anekdoten aus seiner therapeutischen Arbeit, seinem Privatleben, kaum merklich dosierten Einschüben von Fachkollegen wie bspw. Carl Rogers oder Jaques Lacan oder den vielen Metaphern, Allegorien oder lyrischen und epischen Einschüben aus der südamerikanischen Literaturszene. Stilistisch generiert sich aus dem konfrontativen Gegenwind nach und nach ein Auftrieb, der die Leserschaft nach der Lektüre mit Rückenwind ausstattet.    

„Wäre Selbstverwirklichung zielgebunden, so würde man immer nur beim Erreichen eines Ziels Zufriedenheit empfinden. Hängt sie hingegen damit zusammen, dass man seine Lebensorientierung gefunden hat, dann zählt bloß noch das Unterwegssein und dass man sich auf dem richtigen Weg befindet. […] Aber Vorsicht! Es gibt nicht nur einen einzigen richtigen Weg […]. Alle Wege sind richtig, solange sie in die eingeschlagene Richtung führen. Haben wir das einmal begriffen, können wir, […].“

Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit Wem?. 7. Auflage 2020, S.267.

… es verdichten. Doch zuvor muss der Leser für sich den Unterschied zwischen den vielen Wegen und einer orientierenden Richtung bewusst schärfen – ein ermutigender Begleitflug, den man mit Bucay unternehmen kann, um seine eigenen möglichen Wege in die richtige Richtung zu erkunden.

Lesenswert?

Für Suchende kann „Drei Fragen“ eine erbauliche Lektüre sein. Doch auch für diejenigen, die nicht oder nicht mehr auf der Suche sind, kann das Buch einen genussvollen Mehrwert haben. Das akademisch-literarisch-philosophische Gemüt hat bspw. einen Rätselspaß dahingehend, welche Parallelen es zwischen der südamerikanischen und europäischen Literatur gibt. Das rein nach Orientierung suchende Gemüt wird ebenfalls fündig, da es der Übersetzerin wahrlich gut gelungen ist, eine unkomplizierte Sprache zu treffen, die es nahezu jedem möglich macht, Bucays Gedanken und Absichten nachzuvollziehen. Dies ist natürlich nicht zuletzt – aufgrund seines bildhaften Schreibstils – seine besondere Leistung.  

In diesem Sinne: Guten Flug und eine sanfte Landung!

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Drei Fragen
Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?
von Jorge Bucay
304 Seiten
9,99 € – 15,00 €

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