Eine freie Frau von Leïla Slimani: Wie Feminismus und Schönheitschirugie zusammenfinden

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Schönheitschirugie und Feminismus klingen auf dem ersten Blick sehr widersprüchlich. Geht es nicht im Feminismus darum, sich von Schönheitsidealen freizumachen? Suzanne Noël, französische Pionierin der ästhetischen Chirugie und Feministin belehrt uns eines Besseren. Leïla Slimani und der Illustrator Clément Oubrerie widmen sich dem Leben dieser Frau in Wort und Bild und schaffen so in Zusammenarbeit die erste Graphic Novel der französischen Autorin.

Erster Ausbruch aus den Konventionen

Suzanne beginnt ihr Leben wie jede europäische Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Sie heiratet und fristet ein Dasein als Frau, die sich überwiegend auf Dinnerpartys oder in ihrem eigenen Haus befindet. Schnell wird es der wissbegierigen jungen Frau zu langweilig und sie entscheidet sich, ihren höheren Schulabschluss nachzuholen und sich danach für ein Medizinstudium einzuschreiben. Ihr Mann, der selbst Arzt ist, unterstützt seine Frau auf diesem Weg, auch wenn er dafür hämische Bemerkungen in seinem Freundeskreis ernten muss.

Mit exzellenten Noten arbeitet sie sich durch das lange Studium, als eine der wenigen Frauen, und lernt dabei André Noël kennen. Sie verlieben sich und Suzanne beginnt eine Affäre mit André. Die junge Ärztin wird schwanger und bringt ihre Tochter Jaqueline zur Welt.

Erste Schritte in der plastischen Chirugie

Obwohl sie zunächst geplant hat, in die dermatologische Praxis ihres Mannes einzusteigen, fühlt sie sich der plastischen Chirugie hingezogen. Abends steht sie vor dem Spiegel und zieht an ihrem Gesicht herum, um Möglichkeiten zu entwickeln, die Haut zu straffen. Sie probiert es an Kaninchen aus und schon bald auch an den ersten Frauen.

Der renommierte französische Chirug Thierry de Martel hält viel von Suzanne und lässt sie bei der Behandlung von Kriegsverletzungen im Ersten Weltkrieg assistieren. Sie rekonstruieren vom Krieg entstellte Gesichter mit einem aufwendigen Verfahren und erhalten dadurch viel Aufmerksamkeit. Sowohl ihr Ehemann als auch ihr Geliebter kämpfen an der Front. Ihr Ehemann fällt dem Giftgas an der Front zum Opfer. Mit André und der gemeinsamen Tochter Jaqueline zieht sie zusammen.

Durchbruch als Chirugin

Nachdem sie die alternde Schauspielerin Sarah Bernhard von ihren Falten befreit hat, schafft sie ihren Durchbruch als geheimer Tipp in der ästhetischen Chirugie. Ihre Diskretion verschafft ihr viel Anerkennung unter den Frauen. Suzanne selbst versteht sich als Feministin und sieht sich des Öfteren mit der Frage konfrontiert, wie sie ihren Beruf mit ihrer persönlichen Einstellung in Einklang bringe. Die Chirugin sieht darin keinen Widerspruch, denn sie ermöglicht den Frauen, egal ob reich oder arm, Anerkennung zu erfahren. Die Gesellschaft sei zu oberflächlich, um einer Frau, die nicht makellos ist, eine berufliche Perspektive zu bieten. So operiert sie alle Frauen, die ihre Hilfe benötigen und arbeitet dabei auch häufig unentgeltlich.

Jahre des Schicksals

Der berufliche Erfolg sollte schon bald überschattet werden. Tochter Jaqueline stirbt an der Spanischen Grippe und André, der diesen Verlust kaum überwinden kann, beginnt zu trinken. Auch er stirbt zwei Jahre später an einem vermeintlichen Selbstmordversuch. Ob es der viele Alkohol oder die Trauer war, die André in der Seine ertrinken lassen haben, kann keiner genau sagen. Vielleicht die Mischung aus beidem. Für Suzanne ging das Leben als Witwe weiter und beweist auch in diesen schweren Zeiten, dass sie einen angeborenen Kampfgeist in sich trägt.

Einsatz für Frauenrechte

Auch wenn sie immer wieder mit der Frage konfrontiert wird, wie ihr Kampf für Frauenrechte mit ihrer oberflächlichen Tätigkeit in der Schönheitschirugie in Einklang zu bringen sei, kämpft sie ihr Leben lang für die gesellschaftliche Stellung der Frau. So gründet sie den ersten Soroptimisten-Club, der dazu dienen soll, erfolgreiche Frauen besser miteinander zu vernetzen, ähnlich wie der Rotary Club für Männer. Sie reist durch die ganze Welt und gründet zahlreiche Clubs, die ein breites Netzwerk von erfolgreichen Frauen bilden, die sich gegenseitig unterstützen.

Künstlerische Ausgestaltung

Da es sich bei dieser Biografie um eine Graphic Novel handelt, ist nicht nur die Lebensgeschichte der Chirugin spannend, sondern auch die künstlerische Ausgestaltung dieser. Oubrerie hebt in seinen Zeichnungen die tragischen Episoden von Suzannes Leben besonders hervor. Die Bilder, die Zeiten der Biografie darstellen, die vom Tod der Tochter und des Mannes überschattet sind, sind dunkler als die anderen. Der Schmerz wird für den Lesenden greifbar gemacht. Zum Ende ihres Lebens verliert Suzanne immer mehr ihr Augenlicht. Die immer schlechter werdende Sicht muss auch der Lesende über sich ergehen lassen, denn die Bilder werden unscharf, dunkel und schemenhaft. Während des kompletten Leseprozesses fühlt man sich der Protagonistin sehr nahe, da man stets das Gefühl hat, ihr Leben durch ihre Augen zu betrachten.  

Lesbar?

Wie wahrscheinlich viele, habe ich mich zu Beginn der Lektüre gefragt, was an dem Leben einer plastischen Chirugin so spannend sein soll. Mit Graphic Novels hatte ich auch bisher wenig Berührungspunkte und stand einer comicartigen Biografie eher skeptisch gegenüber. Doch ich wurde überrascht! Die Bilder sind nicht mit denen eines klassischen Comics zu vergleichen, denn sie verdeutlichen das facettenreiche Leben von Suzanne Noël. Eine Frau, die aus gutem Hause stammt, einen Arzt heiratet und dann doch alles ganz anders kommt als man erwartet hätte.

Suzanne zog in den Krieg, in einen Krieg gegen das Patriarchat und das auf eine unaufgeregte, aber bestimmte Art, was sie so sympathisch macht. In dieser Biografie wird deutlich, dass Feminismus schon immer viele Seiten hatte und dazu gehört auch das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Feminismus bedeutet nicht, dass man sich mit Makeln abfinden muss, sondern vielmehr geht es um die Freiheit, sich in seinem Körper wohlzufühlen und dafür das tun zu dürfen, was dafür nötig ist. Auch wenn die Dialoge an vielen Stellen etwas „unkreativ“ wirken, machen es die ausdrucksstarken Bilder wett. Es war wohl nicht meine letzte Graphic Novel…

Eine freie Frau von leila Slimani und Clément Oubrerie
192 Seiten
16 Euro

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