Frau im Dunkeln - Elena Ferrante

Frau im Dunkeln von Elena Ferrante: Ein Kampf zwischen Selbstbestimmung und mütterlicher Verantwortung

Gibt es Mütter, die nicht gerne Mütter sind? Oder: Gibt es Mütter, die es sogar bereuen, diese Rolle in ihrem Leben angenommen zu haben? Elena Ferrante lässt in ihrem Roman „Frau im Dunkeln“ eine Frau zu Wort kommen, die ihre Rolle als Mutter ganz unverklärt reflektiert und dabei das Unaussprechliche ausspricht. Auch wenn der Roman erst in den letzten zwei Jahren den vordersten Platz in den Regalen der Buchläden fand, so wurde er bereits 2006 das erste Mal in Italien veröffentlicht – eine Zeit, in der die Kombination aus Reue und Mutterschaft ein avantgardistisches Gedankenspiel war und vielleicht den Grundstein für die neun Jahre später entstandene Regretting motherhood-Bewegung legte.

Eine alleinreisende Frau am Strand

Leda, eine alleinstehende Hochschuldozentin, deren zwei erwachsene Töchter dem Vater in die USA hinterhergezogen sind, reist in einen Touristenort an die süditalienische Küste. Sie erhofft sich ein wenig Erholung und Ruhe für die Vorbereitung ihres nächsten Semesters. Während sie in ihrem Liegestuhl am Strand sitzt, beobachtet sie eine Familie, in der alle Charaktere, die zu einer klassischen Großfamilie gehören, vertreten sind: Eine schwangere Frau, Kinder, Cousins und Männer, die sich wenig mit ihren Frauen beschäftigen. Ganz besonders fällt ihr die junge Mutter Nina auf, die hingebungsvoll im Spiel mit einer Puppe und ihrer Tochter versunken ist. Zunächst fasziniert sie die Schönheit der Zuneigung zwischen Mutter und Tochter.

Doch die Bewunderung, die sie für Nina empfindet, wandelt sich von Tag zu Tag. Auf Leda wirkt die Idylle zwischen Mutter und Kind immer gekünselter, ein vorgespieltes Glück, was sie mit ihren eigenen Töchtern nicht so wahrgenommen hat. Ihr haben Spiele mit Puppen oder anderem Spielzeug nie Spaß gemacht. Das Beobachten der Familie lässt bei Leda Erinnerungen an ihre eigene Familie, an ihr Versagen als Mutter und ihre gescheiterte Ehe aufkeimen. In ihren Reflexionen geht sie hart mit sich ins Gericht. Die Ehrlichkeit, mit der sie ihren inneren Konflikt zwischen Liebe zu ihren Töchtern und dem Drang zur Selbstverwirklichung beschreibt, macht es dem Lesenden schwer, Sympathien für die Protagonistin zu empfinden. An zu vielen Stellen wird man mit ihrer egoistischen Vergangenheit konfrontiert, in der sie ihre beruflichen Ambitionen und ihr privates Vergnügen vor die Sorge um ihre Töchter schiebt. Diese innere Zerrissenheit treibt sie sogar so weit, dass sie ihre Familie, zu einer Zeit, in der die beiden Töchter noch sehr klein waren, für drei Jahre verlässt, um ihren eigenen Träumen nachzugehen.

Es ist schwer nachzuvollziehen, warum Leda im Laufe der Geschichte die Puppe der Tochter von Nina stiehlt, die von dieser schmerzlich vermisst wird. Die Frau im Dunkeln zeigt hier ihre düstere Seite und behandelt die Puppe wie eine Geisel, die sie vor den Augen der Außenwelt versteckt halten möchte. Ein kleines Verbrechen, was eigentlich als Scherz durchgehen könnte, wenn Leda dabei nicht fast angewidert auf die weinende Puppenmutter schauen würde, während sie sich von den Tränen so gar nicht erweichen lässt.  

Das Porträt einer Rabenmutter?

Eine Rabenmutter würde man Charaktere wie Leda im Volksmund nennen. Eine Frau, die nicht dazu in der Lage ist, ihre persönlichen Belange hintenan zu stellen und ihren Pflichten als Mutter nachzukommen. Mit der Geburt eines Kindes sollte die Mutterliebe entfacht werden und die engste Bindung, die es zwischen Menschen gibt, bilden. Und nun verleiht Elena Ferrante auf einmal all diesen Frauen, die von diesem Ideal abweichen, durch Leda eine Stimme. Eine Stimme, die so schmerzhaft ehrlich davon berichtet, wie sie keinerlei Freude beim gemeinsamen Puppenspiel mit ihren Töchtern empfunden hat. Eine Stimme, die charakterliche Schwächen in ihren Kindern beschreibt und genervt ist, wenn diese sie anrufen und banale Nichtigkeiten aus ihrem Leben erzählen. Den Kampf, den eine Frau mit sich austrägt, die sich nicht nur über ihre aufopferungsvolle Mutterrolle definiert, sondern auch ein eigenes Leben mit beruflichen und privaten Zielen leben möchte, wird hier in jeder Zeile deutlich.

Doch ist dieses Verhalten verwerflich? Oder ist es vielleicht eine urmenschliche Reaktion, die schlichtweg auf Überforderung zurückzuführen ist? Die Erwartungen, die an eine Mutter gestellt werden, setzen fast voraus, dass eine Frau eine Art Superheldin sein muss. Bei kindlichen Spielen muss sie Freude empfinden, sie muss entzückt sein, wenn ihr Schützling sich auf irgendeine Weise zu seiner Umwelt verhält, sie darf keine Karriereambitionen haben, sich nicht mit ihren jugendlichen Töchtern vergleichen, sie muss in Würde altern und im Alter ihrer Rolle als wohlwollende Großmutter gerecht werden.

Natürlich gibt es viele Frauen, die diese Superheldinnenrolle problemlos einnehmen können oder gut funktionierende Kompromisse finden. Jedoch würde kaum eine Mutter sagen, dass sie vielleicht ein schöneres Leben gehabt hätte, wenn die Kinder nicht gewesen wären.

Collage von Birgit Steinborn

Regretting motherhood-Bewegung

Die israelische Soziologin Orna Donath wollte es 2015 genau wissen, ob es tatsächlich Frauen gibt, die mit dem Wissen, was sie heute über Mutterschaft haben, sich gegen den Nachwuchs entscheiden würden. Sie wurde fündig und interviewte verschiedene Frauen, die nicht gerne Mutter sind. Wenige können darüber offen sprechen, da noch heute den kinderlosen Frauen von der Gesellschaft eine düstere und einsame Zukunft prophezeit wird. Der gesellschaftliche Druck ist enorm und nicht selten entscheidet man sich für Kinder, weil es Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen so vorleben. Keiner fragt nach einer Begründung, warum man sich für Kinder entscheidet, sondern das Staunen wird nur groß, wenn man nicht davon träumt, Mutter zu werden. Diese gesellschaftliche Delegitimierung setzt Frauen unter Druck und führt letztendlich dazu, dass sich einige Mütter nicht in der Mutterrolle einfinden können, da sie in dieser eigentlich nie sein wollten.

Die Studie von der israelischen Soziologin löste einen weltweiten Diskurs aus. Zahlreiche Mütter gründeten Foren, in denen sie sich austauschten über die doch gänzlich unweibliche Kombination aus Reue und Mutterschaft. Ein gesellschaftliches Tabu fand in diesem Diskurs einen Raum, was dem herkömmlichen Rollenbild so gar nicht entsprach.

Leseempfehlung?

Wer viel Handlung erwartet, wird mit diesem Buch keine Freude haben. Alles was passiert, wirkt eher wie eine Rahmenhandlung, die den eigentlichen Kern der Geschichte „triggert“: Die schwangere Frau, die sie an ihre eigene Schwangerschaft erinnert, der Streit zwischen Nina und ihrem Mann, die Erinnerungen an ihre gescheiterte Ehe auslöst, die Tochter von Nina, die ihr ihr ganzes Versagen als Mutter vor Augen hält. Die Familie und andere Figuren, auf die Leda in ihrem Urlaub stößt, erscheinen fast plastisch und man erfährt wenig über deren Leben oder Charakterzüge. Im Vordergrund der Geschichte steht das, was die gescheiterte Mutter in sie hineinprojiziert.

Doch dass die Geschichte mehr durch die Erinnerungen der Protagonistin lebt als durch eine abwechslungsreiche Handlung, macht das Buch keineswegs langweilig. Es öffnet einen den Blick in die Gedanken, Sorgen und Hoffnungen einer Mutter. Eine Mutter, die fehlbar ist, die mit der Geburt ihres ersten Kindes nicht den Schalter umlegen konnte, der den Fokus von sich selbst auf das Neugeborene lenkt. Eine Mutter, die dem Drang nach Selbstverwirklichung nicht widerstehen konnte und dabei ihren Töchtern nicht gerecht werden konnte. Der Roman rückt ein Tabuthema, über welches niemand sprechen will, in den Mittelpunkt des Geschehens. Allein dieser fast revolutionäre Zug von Ferrante macht dieses Buch zu einer absoluten Leseempfehlung.

Elena Ferrante: Frau im Dunkeln. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019

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