Wer Kinder hat und/oder mit ihnen beruflich zu tun hat, dem wird folgende Frage vermutlich des Öfteren gestellt worden sein: „Wie konntet ihr damals nur ohne Smartphone klarkommen?“ Zugegeben: Bei allen Vorteilen und praktischen Handhabungen verschwimmen besonders bei den Digital Natives der ersten Generation – gemeint ist die Generation Y (1981 bis 1995) – die Erinnerungen an die Festnetzanschlüsse sowie an Handys und SMS; und auch an ein TV-Programm mit nächtlichem Sendeschluss. Bei der zweiten digitalen Generation, der Gen Z (ab 1995), kam dann aber im Laufe der Entwicklung das Smartphone hinzu und dem Anschein nach erzeugt dieses sendungsschlusslose Multitalent, Jonathan Haidt zufolge, mehr Kurzschluss- als Lichtquellen. Dementsprechend lautet der Untertitel seines Buches in der deutschen Übersetzung wie folgt: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.
Die smartphonebasierte Wende im digitalen Selbst- und Welterleben Heranwachsender
Haidt ist Psychologieprofessor an der Stern School of Business der Universität in New York. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Moral bzw. die Moralpsychologie. Das Buch war zunächst nur als ein kurzes Kapitel für ein anderes Buch gedacht. Jedoch ergab die Breiten- und Tiefendimension seiner Forschung die Idee zum Buch. Sein Interesse galt zunächst der Erforschung des ungewöhnlichen Anstiegs des psychischen Leidens bei Kindern und Teenagern im englischsprachigen Raum der westlichen Industrieländer wie bspw. USA, Kanada und England. Die zeitlichen Überschneidungen der studierten Daten haben seinen Beobachtungen nach das weltweite Aufkommen des Smartphones gemein; folglich konstatiert Haidt:
„Darum bezeichne ich diesen Zeitabschnitt von 2010 – 2015 als die große Neuverdrahtung der Kindheit. Soziale Muster, Rollenvorbilder, Emotionen, körperliche Aktivitäten und selbst die Schlafmuster von Heranwachsenden wurden innerhalb von nur fünf Jahren grundlegend umgestaltet.“
– Generation Angst. 6. Auflage 2024, S.52.
Seither ist das Smartphone omnipräsent und wird stets smarter. Doch wie wirkt sich diese Gerätefortentwicklung auf das Selbst- und Welterleben aus? Haidt spannt einen informativen Bogen, ausgehend vom Entwicklungsverhalten im soziologischen Sinne und beleuchtet dessen Ursächlichkeiten im Kontext des von Natur aus umbaubedingten Gehirns. Hierzu fasst er fünf Aspekte einer mental gesunden Entwicklung bei Heranwachsenden zusammen und stellt diesen vier Gründübel der smartphonebasierten Wende gegenüber: Soziale Deprivation, Schlafmangel, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Abhängigkeit.
Haidt gelingt es, jeden dieser positiven Entwicklungsaspekte als auch die Grundübel im Zusammenspiel aus Psychologie, Neurowissenschaften und soziologisch-anthropologischen Faktoren zu beleuchten, sodass sich im Fortgang der Lektüre ein verknüpfendes Grundverständnis einstellt. Hierfür ist auch die Struktur der zwölf Kapitel verantwortlich, die wiederum in vier übergeordneten Teilen vorstrukturiert sind:
Teil I Eine Flutwelle. Teil II Die Hintergründe: Der Niedergang der spielbasierten Kindheit. Teil III Die große Neuverdrahtung: Der Aufstieg der smartphonebasierten Kindheit und Teil IV Gemeinsam für eine gesündere Kindheit.
Die smartphonebasierte Wende im analogen Leben Heranwachsender – Eltern vs. App-Designer
Haidt beleuchtet auch die Entwicklung nebst Veränderungen im Verhalten der Elternschaft. Diese sei in den 80ern und 90ern – bedingt durch diverse ökonomische sowie kulturelle Veränderungen, die ebenfalls im Buch beleuchtet werden – auch ängstlicher geworden. Im Endergebnis konstatiert Haidt eine äußerst ungünstige Diskrepanz wie folgt:
„Meine zentrale These ist, dass diese beiden Trends – Überbehütung in der wirklichen Welt und die Unterbehütung in der virtuellen Welt – die Hauptursachen dafür sind, dass nach 1995 geborene Kinder zur »ängstlichen Generation« wurden.“
Generation Angst. 6. Auflage 2024, S.20.
An dieser Stelle muss man sich nochmals vor Augen führen, dass der Fokus auf den englischsprachigen westlichen Industrieländern liegt. Das ist insofern wichtig, weil sich Haidts Beispiele zum verständlichen Nachvollzug eben auf diese Länder konzentrieren. Die Überbehütungsbeispiele aus den USA wirken auf das deutsche Gemüt mitunter etwas überzogen. Nichtsdestotrotz wird uns Deutschen einerseits die „German Angst“ nachgesagt, während andererseits der Begriff der Helikoptereltern auch kein Neologismus ist.
Im Kern beschreibt Haidt ausführlich Ursachen und Auswirkungen einer Überbehütung, die ein Erfahrungsblocker im realen Leben der Kinder sein kann, während die Gefahren in der virtuellen Welt unterschätzt werden. Speziell für Eltern lohnen sich daher die Kapitel zu Funktionsweisen einschlägig bekannter Apps. Denn das Smartphone, betrachtet von der Seite der App-Designer, ist ebenfalls ein weiterer Erfahrungsblocker, laut Haidt. Die Kombination aus den Informationen bzgl. Hirn- und App-Funktionen ist dabei wohl dosiert und leicht verständlich geschrieben.
Weiterhin geht Haidt dann auch auf die psychologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich Mädchen und Jungen ein, da beide Geschlechter die virtuellen Räumlichkeiten der Sozialen Medien anders nutzen, was wiederum im Zusammenhang eines mentalen Leidensdrucks nützlich zu wissen sein kann.
Die spirituelle westliche Lücke – mit Grüßen von Immanuel Kant
Im Geisteswissenschaftlichen Spektrum wird der diesjährige 300. Geburtstag von Kant zum Anlass genommen, diesem Denker der Aufklärung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sein Leitmotiv aus der Epoche der Aufklärung »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen« ließe sich auch auf das Hier und Jetzt beziehen. Letztendlich setzt Mut notwendig Angst voraus. Und davon hat diese gegenwärtige Generation ja anscheinend genügend entwickelt.
„Einige Marketingfachleute behaupten, die Generation Z würde um das Geburtsjahr 2010 enden, und bieten uns die Bezeichnung «Generation Alpha» für die danach geborenen Kinder an, doch ich glaube nicht, dass die Generation Z – die ängstliche Generation – eine Enddatum hat, bis wir die Bedingungen für eine Kindheit verändern, die junge Menschen so ängstlich macht.“
Generation Angst. 6. Auflage 2024, S.16
Was sollen wir – mit Kant gefragt – also tun? Wonach sollen wir uns als Gesellschaft orientieren? Wie generieren wir eine digital-mental gesunde Kultur? Haidt schlägt indirekt eine weitere Art der Wende vor. Man könnte auch sagen, dass der aufgekommene Kult des Individualismus nicht grenzenlos funktioniert bzw. ohne die Form eines gemeinschaftlichen Sinnes an sich selbst krankt. Die Religion hat dies in früheren Zeiten vermocht; nicht zuletzt sah Kant in der Religion eine Unterstützung der moralischen Vernunft und weniger eine Quelle für Glaubenssätze oder Dogmen. Ferner ist der Gemeinsinn und die stille inwendige Einkehr in vielen Religionen wesentlich. Beides ist uns auf dem Weg in die Säkularisierung abhandengekommen. Haidt sieht ebenfalls diese Lücke und beleuchtet im achten Kapitel sowohl den Verlust als auch den Gewinn etwaiger Übergangsriten und der Selbsttranszendenz – im säkularen Sinne.
Lesenswert?
Die Seitenanzahl von 445 Seiten wirkt im ersten Moment vielleicht wuchtig, jedoch ist die Strukturierung des Buches hilfreich, um es in Etappen zu erschließen. Thematisch ist es für Eltern und allen, die mit Kindern zu tun haben, ein Erkenntnisgewinn, da es Verhaltensweisen hinsichtlich Ursachen und (Aus-)Wirkungen verständlich darbietet. Ferner ist der Einblick in die Funktionsweisen von Apps nützlich, da den meisten dafür im Alltag schlichtweg die Zeit fehlt. Nicht zuletzt sind auch die Haidt´schen Impulse – für Gemeinden, Eltern und Schulen – nützliche Ansätze, um eine bessere digitale Umgangskultur auf den Weg zu bringen, denn die Schattenseiten der Neuverdrahtung werden erhellend ins Licht gerückt.
In diesem Sinne: Sapere aude!
Jonathan Haidt: https://jonathanhaidt.com/

Generation Angst
Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und
ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen
von Jonathan Haidt
445 Seiten
Gebundene Ausgabe 26,00 €
E-Book 21,99 €