Nebenan von Kristine Bilkau: Wie wollen wir miteinander leben?

Zwei Frauen unterschiedlichen Alters und ein charmeloser Ort bilden den Mittelpunkt der Geschichte des neusten Romans Nebenan von Kristine Bilkau. Der mysteriöse Schauplatz bleibt namenlos, vielleicht liegt es an dem verwaisten Stadtkern, der dem Ort jegliches Recht auf eine Bezeichnung aberkannt hat. Verwaist ist auch das Haus neben der einen Protagonistin, die sich sehnlichst ein Kind wünscht. Viele Themen spielen in diesem Roman eine Rolle, die aber alle einen gemeinsamen Nenner haben: Unser Miteinander.

Zwei Frauen, viele Sorgen

Julia ist Ende 30 und mit ihrem Mann aus Hamburg in den kleinen Vorort gezogen. In der Hoffnung, so der Natur und sich selbst etwas näher zu kommen, hat sie sich von dem stressigen Agenturleben in Hamburg verabschiedet und sich mit einem Keramikladen in der leeren Innenstadt des Örtchens selbstständig gemacht. Zu lange hat sie ihre Karriere vor den Kinderwunsch gestellt und versucht nun mit allen Mitteln, der Vergänglichkeit der Natur zu trotzen und schwanger zu werden. Auf Instagram quält sie sich mit den Posts von jungen Familien und schwangeren Frauen, die dort ihr pastellfarbenes glückliches Leben exponieren.

Astrid ist Anfang 60, hat drei erwachsene Söhne und einen pensionierten Ehemann, der vor Kurzem noch als Lehrer gearbeitet hat. Sie selbst ist Ärztin und findet für ihre Praxis in der maroden Innenstadt keinen Nachfolger. Auf dem ersten Blick scheint ihr Leben rundum perfekt zu sein: Ein Job, der sie glücklich macht, ein Ehemann, der jeden Abend für sie kocht und sich um sie sorgt, drei gesunde und zufriedene Söhne. Doch im Laufe der Geschichte taucht man immer mehr in das Innenleben von Astrid ein und muss feststellen, dass auch in ihrem Leben einige Baustellen vorhanden sind.  

Das verwaiste Haus

Zwischen den beiden Leben der Frauen steht ein Haus, das aus unerfindlichen Gründen verwaist ist. Vor Kurzem wohnte dort eine Familie, die spurlos verschwunden zu sein scheint. Astrid findet auf einem Feld einen Brief, der an die Familie gerichtet ist und wohl einem Postboten aus der Tasche gefallen sein muss. Julia reizt es, in das Haus zu gehen und zu schauen, ob sie Erklärungen für die leeren Zimmer findet.

Aus einer gewissen Distanz spielt die Familie, die auf unerklärliche Weise verschwunden ist, immer wieder eine Rolle in der Geschichte. Vorsichtig schauen sie durch die Fenster, fragen sich, was wohl passiert sein könnte, doch halten einen sicheren Abstand. Es ist, als ob sich alle gerne näher wären, mehr in das Leben der anderen eintauchen wollen, aber irgendwas steht zwischen den Bewohnern der kleinen Stadt. Ähnlich verhält es sich mit der einst besten Freundin von Astrid, die, nach einem Vorfall mit ihrem Sohn, den Kontakt zu Astrid meidet. Distanz ist ein großes Thema in Bilkaus Roman.

Distanz und Miteinander

Der Wunsch nach Familie, Nähe und Miteinander liest man an jeder Stelle zwischen den Zeilen des Romans. Doch die meisten Figuren beschnuppern sich nur vorsichtig und wahren die Distanz. Selbst die glücklichen Ehepaare wirken so, als ob sie nebeneinander leben, aber nicht miteinander.

Es ist die besorgte Julia, die wissen will, wie es der jungen Mutter und ihren Kindern geht, die Hals über Kopf das Nachbarhaus verlassen musste. Es ist Astrid, die sich vor lauter Unbehagen, dass sie den Tod einer Patientin nicht ganz erklären kann, zur Ruhe schwimmt und den Lesern zeigt, dass diese Distanz überbrückt werden sollte. Die Figuren wollen aufeinander zugehen, doch es gelingt selten.

Bilkau zeichnet hier ein klassisches Bild der modernen Gesellschaft. Ein jeder scheint gefangen in seinen eigenen Problemen, die einen viel größer erscheinen, wenn man sich allein damit beschäftigen muss. Astrid und Julia wirken unglücklich, beide belastet etwas, aber keiner sucht das Gespräch, um die Probleme zu teilen, sich einen Rat einzuholen. Ist es nicht das, was so viele Menschen heutzutage in die Depression treibt? Würden sich nicht viele Probleme relativieren, wenn man sie offen ausspricht? Der Individualismus zieht sich durch jede Zeile des Buches und macht deutlich, dass wir allein nicht glücklich werden.

Lesbar?

Nebenan ist ein Roman, in dem sich die Spannung im Innenleben der Protagonistinnen aufbaut. Die Handlung ist nicht schnell, voller Überraschungen oder besonders abwechslungsreich, aber irgendwas lässt einen nicht los, wenn man die Geschichte liest. Man will wissen, was es mit den mysteriösen Briefen auf sich hat, man will erfahren, ob Julias Kinderwunsch in Erfüllung geht. Und man möchte wissen, ob es am Ende ein Miteinander gibt. Ob all die Probleme der Individuen am Ende zusammenfließen und sich auflösen.

Bilkau ist eine gute Beobachterin und hat verstanden, wie der moderne Mensch tickt. Diese feine Darstellung jeder einzelnen Person macht das Buch absolut lesenswert, denn was wir aus diesem Buch mitnehmen können, sind die Ängste und Nöte, die unsere Gesellschaft beschäftigen. Auch wenn es kaum ein Miteinander gibt, erkennt man, dass wir alle ähnliche Probleme haben, die sich nur hinter gepflegten Hausfassaden oder Instagram-Accounts verbergen.

Nebenan von Kristine Bilkau
22 Euro
288 Seiten

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