Oh William! von Elizabeth Strout: Die Bilanz einer Ehe

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Lucy Barton, die Protagonistin des neuen Romans von Elizabeth Strout, ist Strout-Liebhabern ein Begriff. Die Autorin ist dafür bekannt, ihre Figuren über die Buchränder hinweg zu erzählen und sie durch ihr gesamtes Werk zu tragen. Bisher erfuhr man nur wenig über Lucys erste Ehe mit William. Mittels eines besonderen Erzählstils begleitet der Leser die Protagonistin auf eine Reise mit ihrem Ex-Mann in die Vergangenheit. Eine Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens beginnt: Wo komme ich her? Bin ich meine Herkunft? Was ist Liebe? Und vor allem: Kann ich das Korsett der Vergangenheit abschütteln und mich neu erfinden?

Ehe mit Hindernissen

Lucy und William waren in erster Ehe verheiratet und haben zusammen zwei Töchter. William heiratete weitere zwei Male, Lucy noch einmal. Beide verloren sich nie aus den Augen und es entstand eine Art Freundschaft. Als ihr zweiter Mann starb, war es er, der sie tröstete. Als er auch von seiner dritten Frau überraschend verlassen wurde, ist sie diejenige, die sich um ihn sorgt.

Das letzte Geschenk seiner geflohenen Ehefrau war ein Link zu einer Ahnenforschung, die bei William Fragen aufwirft. Er findet auf diesem Wege heraus, dass er noch eine Schwester hat. Es wird immer deutlicher, dass seine mittlerweile verstorbene Mutter einige Geheimnisse um ihre Herkunft mit ins Grab genommen hat.

Roadtrip durch Maine

So begibt sich das Ex-Ehepaar auf die Suche nach Antworten und reist in den Heimatort von Catherine, Williams Mutter, und seiner vermeintlichen Schwester. Während der Reise stoßen sie nicht nur auf Antworten zu Williams familiären Hintergründen, sondern auch zu ihrer Ehe, die stets von ihren Unterschieden geprägt war. Während Lucy aus einem armen Elternhaus vom Land kommt und von ihren Eltern als Kind misshandelt wurde, wuchs William in der Geborgenheit seiner Mutter auf. Weltgewandt zeigte die Schwiegermutter der unsicheren Landpomeranze Lucy wie man sich in einer Stadt wie New York zu kleiden hätte und dass Golf und Strandurlaub der Freizeitvertreib der Wohlhabenden sei. Doch auch William hat mit seiner Vergangenheit zu kämpfen. Sein Vater hat den Deutschen im Zweiten Weltkrieg gedient und nach einem Besuch in einem Konzentrationslager plagen ihn immer wieder Alpträume und Schuldgefühle.

Gedankenmonolog

So viel zu der Rahmenhandlung. Diese ist nicht sonderlich spektakulär, aber sie bietet Impulse, die Lucy nachdenklich machen. Der besondere Erzählstil von Strout erinnert an einen selbst. Der Protagonistin scheinen wahllos Erinnerungen hochzukommen, die immer wieder unterbrochen werden von anderen Gedanken. Es ist alles aus der Perspektive von Lucy geschildert, die sich stets ermahnt, dass der Fokus auf William in dieser Geschichte liegen soll. Jedoch mischt sich diese Erzählung mit Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann, Überlegungen über ihre Töchter und ihre Schwiegermutter und der eigenen Vergangenheit.   

„Aus demselben Grund habe ich mich auch in William verliebt. Weil er Autorität ausstrahlte. Wir sehnen uns nach Autorität. Jeder Einzelne von uns. Egal, was immer gesagt wird, jeder von uns sehnt sich nach diesem Gefühl: Da ist jemand mit Autorität. Da ist jemand, bei dem ich in Sicherheit bin.“

Oh William ! von Elizabeth Strout (S.126)

Die Bilanz eines Lebens

Insbesondere durch diesen Erzählstil steht man der Erzählerin sehr nahe. Man spürt die Wunden, die ihre Vergangenheit bei ihr hinterlassen hat und welche Bedeutung die zwei Ehen in ihrem Leben für sie hatten. Es wird nicht deutlich, wie alt Lucy ist, aber es lässt sich vermuten, dass sie Mitte 60 sein muss. Die Art ihres Denkens passt zu ihrem Beruf als Schriftstellerin. Sie nennt nicht nur Schwächen ihres Ex-Mannes William, sondern auch ihre eigenen. Es wird nichts beschönigt und scheint eine schmerzhaft ehrliche Bilanz eines Lebens mit Höhen und Tiefen zu sein.

Eine Kindheit, die von Gewalt und Lieblosigkeit geprägt war, wurde abgelöst von einer Ehe, die wieder ihr endlich zurückgewonnenes Vertrauen erschütterte. Dennoch blieben ihr daraus zwei wunderbare Töchter und eine tiefe Freundschaft zu William. Trotz der Hindernisse, die ihr immer wieder gestellt wurden, verlor Lucy nicht die Hoffnung in ihr Glück und fand ihre große Liebe in ihrem zweiten Mann. Doch auch diesen verlor sie an einer Krankheit. Der Zufall meinte es nicht gut mit ihr, dennoch blickt sie auf ein Leben zurück, dass mit vielen wunderbaren Momenten gespickt war.

Lesenswert?

Auch wenn die Ich-Erzählerin stets betont, dass es sich in dieser Geschichte um William handelt, so taucht man mehr in das Denken und Leben der Lucy Barton ein, was sicherlich dem besonderen Erzählstil geschuldet ist. Strout schreibt dicht am Leben und vielleicht verwebt sie die Geschichten ihrer Figuren genau deshalb über die Romane hinweg. So birgt doch jeder Mensch eine spannende, erzählenswerte Geschichte, die Aufschluss darüber gibt, warum man wie geworden ist. Und diese Hintergründe gilt es zu erforschen, näher kennenzulernen.

Strout ist eine Meisterin darin, den normalen Menschen von nebenan Bedeutung zu verleihen. Simple Handlungen werden spannend durch tiefgründige und berührende Gedanken. Die Facetten von Liebe, Hoffnung, Freundschaft aber auch Missgunst, Zorn und Traurigkeit werden von kaum einer Autorin so schön in Worte gefasst wie von Elizabeth Strout. Die kleinsten Gesten und Handlungen können erzählenswert werden, wenn man in ihnen den besonderen Kern erkennen kann. Und das kann die Autorin. Zum Schluss bleibt diese wahrhaftige Erkenntnis:

„Aber wenn ich Oh, William! denke, meine ich dann nicht letztlich auch: Oh, Lucy? Meine ich nicht: Oh, ihr alle, oh, ihr Lieben alle auf der ganzen weiten Welt, wir kennen niemanden wirklich, auch nicht uns selbst? Gut, ein kleines, winziges bisschen vielleicht. Aber im Kern bleiben wir Geheimnisse. Mythen. Wir sind alle gleich unerforschlich, das will ich damit sagen. Das ist vielleicht die einzige Wahrheit, deren ich mir ganz sicher bin.“

Oh William! von Elizabeth Strout (S.222)

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Oh William! von Elizabeth Strout
222 Seiten
20 Euro

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