Seide von Alessandro Baricco: Eine Liebesgeschichte so zart wie Seide

Wer sich heutzutage traut, eine Liebesgeschichte oder gar einen Liebesroman zu schreiben und dann auch noch zu veröffentlichen, begibt sich in die Gefahr, etwas zu schreiben, was vor ihm zahllose Autoren, Dichter und Denker in unendlichen Variationen schon viele Male besser, origineller, großartiger oder gar schöner dargestellt haben. Und dass der Leser schnell die verwöhnte Nase rümpft, ist dann kein Wunder.

 Gibt es da überhaupt noch etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes?

Ja, es gibt etwas, und zwar eine kleine Erzählung, die mittlerweile nahezu 25 Jahre alt ist. Und bevor sie in Vergessenheit gerät, sollte man sie vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen. Denn diese Geschichte ist mit einer Sprache geschrieben, die über das schweigt, worum es hier eigentlich geht, und die darin einen Zauber hinterlässt, der zu den Kostbarkeiten dieses Genres gehört.

Von Seidenraupen und Schönheit

Zum Geschehen: In dem kleinen südfranzösischen Dorf Lavilledieu lebt Hervé Joncour glücklich mit seiner jungen Frau Hélène. Man schreibt das Jahr 1861. Joncour handelt erfolgreich mit Seidenraupen, die er bislang in Ägypten gekauft hat. Aber eines Tages erkranken diese Raupen auf geheimnisvolle Weise und Joncour entscheidet sich, die lange und zeitaufwendige Reise nach Japan auf sich zu nehmen, um dort gesunde Raupen zu kaufen.

Als er nach einer beschwerlichen, dreimonatigen Reise endlich sein Ziel erreicht und dort mit dem Edelmann Hara Kei zusammenkommt, treffen ihn die Augen eines ebenso wunderschönen wie geheimnisvollen Mädchens, das schweigend neben den Volieren von zauberhaften bunten Vögeln sitzt. Von dieser Schönheit gebannt und verzaubert, wiederholt Hervé Joncour diese Reise mehrere Male, ohne auch nur die Stimme dieses schönen Mädchens jemals zu hören. Auf seiner letzten Reise findet er ein zerstörtes Japan vor. Das Mädchen ist verschwunden. Er wird sie nie wiedersehen. Jahre später lässt Hervé Joncour einen Brief übersetzen, in dem sich jenes geheimnisvolle Mädchen ihm auf besondere Weise erklärt.

Eine Reise wie durch Tausend und eine Nacht

Der Zauber dieser Geschichte entfaltet sich in der Erzählweise dieses ungewöhnlichen Geschehens.  Baricco stellt seinem Helden einen unsichtbaren Erzähler an die Seite, der ihn mehr oder weniger aus einer Ferne, aber immer in Sichtweite und nur sehr selten ganz aus der Nähe auf seinen Reisen begleitet. Mit einer Sprache der dezenten Auslassungen und des achtsamen Schweigens wird dem Leser von einer Liebe erzählt, die jeder Konvention, auch die der sprachlichen entbehrt. Wenn Joncour nach Japan reist, bekommen wir genaueste geografische Angaben über Reiseroute, Zeit, über die Streckenlängen und über Ortschaften aufgezählt, und zwar so knapp, so bündig, so schnörkellos, als befänden wir uns in dem Bericht eines Reiseführers.

Das Wundersame dieses gerade mal halbseitigen Berichtes ist es aber, dass sich diese Wegstrecke in dieser kleinen Geschichte wie eine Zauberreise durch Tausend und eine Nacht liest! Viermal reist Hervé Joncour nach Japan, viermal zur gleichen Zeit im Oktober und jeweils zur gleichen Zeit im Mai kehrt er zu seiner Frau zurück.

Der eigentliche Zauber dieser Erzählung liegt in der Weise, wie Baricco Joncours Begegnung mit dem geheimnisvollen Mädchen und deren Auswirkungen auf dessen Leben erzählen lässt. Denn gerade hier entfaltet er die Kunst, an den entscheidenden Stellen und Momenten dieser Begegnung zu schweigen. Wo die beredsame Geschwätzigkeit des Erzählens beginnen könnte, schweigt der Autor, schweigt der Erzähler.

Die Tiefe des Ungesagten

Denn als habe Baricco seinem Erzähler strikte Anweisungen der Zurückhaltung gegeben, erzählt er nur das, was geschieht, was er sieht und was er als außenstehender Kenner über Hervé Joncour und sein Empfinden weiß. Und so sucht der Leser vergeblich nach Hinweisen über mögliche Zweifel oder gar innere Konflikte des Helden etwa bezüglich seiner jungen Frau. Keine literarisch manierierten Monologe oder ermüdende Dialoge über innere Zerrissenheiten und Verzweiflungsgedanken des Helden, stattdessen eine wundersame Stille, durch die der Leser an einer  zutiefst inniglichen Erfahrung von Liebe und Leidenschaft teilnehmen kann, wie wir sie selten lesen können.

Die Kunst des Verborgenen, die Gabe, dem Geheimnis dieser Empfindsamkeit keinen Namen und keine Worte zu geben als das reine Geschehen, diese Kunst hat Baricco in seiner Geschichte nahezu bis zur Vollendung geführt.

Lesbar?

Hervé Joncour liebt seine Frau bis über den Tod hinaus. Und trotzdem oder gerade weil er das kann, ist er dieser geheimnisvollen jungen Frau begegnet, hat sich verzaubern lassen und lässt am Ende ihren Brief übersetzen. Ob man diesen sehr intimen Brief wirklich braucht, um zu verstehen, worum es hier eigentlich geht, möge jeder Leser selbst entscheiden. 
Am Ende ist nichts erledigt, gelöst, gerichtet oder erloschen, am Ende ist alles gesagt. Das Geheimnis des jungen Mädchens bleibt und das, was Joncour in seinem Herzen trägt, auch:

„Bisweilen, an windigen Tagen, ging er zum See hinunter und schaute stundenlang hinaus, denn es schien ihm, als zeichne sich auf dem Wasser das unerklärliche, schwerelose Schauspiel dessen ab, was sein Leben gewesen war.“ 

Wer mag, darf interpretieren, darf spekulieren und psychologisieren über das Allegorische, über die romantischen Züge der Geschichte, über das Märchenhafte. Der Zauber dieser kleinen Liebesgeschichte bleibt zauberhaft und wunderschön!

Alessandro Baricco
Seide
132 Seiten
8 Euro

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