So fängt das Schlimme an von Javier Marías –Haben Lügen manchmal doch die längeren Beine?

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Seit jeher hat die Lüge einen schlechten Ruf. Das Gesetz, die Bibel und auch viele Philosophen verteufeln sie und sehen kaum eine Daseinsberechtigung dieser bewussten Verzerrung der Wahrheit. Javier Marías bricht mit dieser Tradition in seinem Roman „So fängt das Schlimme an“ und befreit die Lüge von ihrem vernichtend unmoralischen Stigma. Doch was hat es mit der Lüge auf sich? Warum hat sie so einen schlechten Ruf und in welcher Form wird ihr dieser von Marías genommen?

Inhalt des Romans

Marías ist sich auch mit seinem Roman „So fängt das Schlimme an“ treu geblieben: Ein unerwarteter Todesfall, eine ungleiche Beziehung und verworrene Ereignisse, die dem Leser nie ganz ermöglichen wollen, das Mosaik der Wahrheit richtig zusammenzusetzen. Doch neben diesen zentralen Säulen seiner Romane setzt er immer wieder andere thematische Schwerpunkte, die zum Nachdenken anregen.

Juan de Vere arbeitet als Assistent und Sekretär für den bekannten Filmregisseur Eduardo Muriel im Madrid der 80er Jahre. Neben Recherchearbeiten erhält er auch den Auftrag, den befreundeten Arzt der Familie Jorge van Vechten auszuspionieren. Es wird gemunkelt, dass er in der Franco-Diktatur nicht der ehrenvolle Arzt war, für den er sich immer ausgibt.

Juan wohnt während seiner Tätigkeit für den Regisseur in seinem Haus mit Eduardos Frau Beatriz und den drei Kindern. Auch hier scheint irgendwas faul zu sein, denn das Verhältnis zwischen den Eheleuten ist kalt und distanziert und Beatriz wird immer wieder vor Freunden und Bekannten durch Beleidigungen von Eduardo gedemütigt. Was ist zwischen den beiden vorgefallen, dass ein derartiger Umgang von beiden Seiten akzeptiert wird? Juan versucht, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und folgt Beatriz heimlich, wenn sie die Wohnung allein verlässt.

Das Netz der Geheimnisse

Als Leser tappt man den Großteil des Romans im Dunkeln. An zahlreichen Stellen erscheint die Wahrheit gut gehütet und so unerreichbar, dass man sich fast damit abfinden will, es darauf beruhen zu lassen. Warum trägt der Regisseur eine Augenklappe? Aus welchem Grund sollte man an den guten Taten des Arztes van Vechten zweifeln? Wohin verschwindet Beatriz tagsüber? Wie ist der tiefe, unüberwindbare Graben zwischen den Eheleuten entstanden?  Anspielungen und doppeldeutige Gespräche erwecken aber immer wieder das Interesse, hinter die Kulissen schauen zu wollen, weiterzulesen und mit jeder Seite wieder zu hoffen, dass man sich der Wahrheit ein weiteres kleines Stück nähern kann.

Auch wenn die zentralen Lügen, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen, Auswirkungen auf alle Protagonisten und deren Vergangenheit haben, sieht keiner, bis auf Juan, einen Mehrwert darin, diese aufzudecken. Ganz im Gegenteil, man bekommt sogar das Gefühl, dass die Augenklappe von Eduardo Muriel sinnbildlich für den Wunsch nach einer gewissen Blindheit steht. Doch welchen Mehrwert kann das Verschleiern einer Lüge für uns haben? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, lohnt sich ein Abstecher in die Philosophie.

Definition Lüge

Zunächst einmal: Was ist überhaupt eine Lüge? Wann darf man offiziell von einer Lüge sprechen? Wenn man die Unwahrheit sagt, kann man noch nicht von einer Lüge sprechen. Eine Lüge, also eine Unwahrheit, musss bewusst geschehen. Der Lügende will also bewusst jemanden mit der Unwahrheit täuschen. Er selbst weiß aber, dass seiner Aussage kein Wahrheitsgehalt zugrunde liegt.  Wir sprechen also nicht von einer Lüge, wenn man zwar nicht die Wahrheit sagt, aber nicht weiß, dass man in diesem Moment etwas Falsches als Wahrheit deklariert. Einen Verschwörungstheoretiker, der selbst an seine Theorie glaubt, kann man streng genommen demnach nicht als Lügner bezeichnen.

Darf man lügen?

Die Justiz, die Philosophie und auch die Religion sind sich da relativ einig, was das Lügen angeht: Wer lügt, der ist ein Sprachverdreher, Verräter oder Verleumder, der sich einen eigenen Vorteil verschaffen möchte. Das Gericht kann der Wahrheit nicht auf den Grund gehen und den wahren Täter sanktionieren, wenn Aussagen nicht wahr sein müssten. Auch die Bibel ermahnt im 8. Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinen Nächsten“.

Sprachlogische Probleme

Insbesondere in der Philosophie hat sie einen schlechten Ruf, da sich die großen Denker stets auf die Suche nach der Wahrheit gemacht haben. Philosophen wie Augustinus, Thomas von Aquin oder Kant stören sich daran, dass durch eine Lüge das Vertrauen in die Sprache zerstört wird. Logiker haben sich seit Jahrhunderten in der Philosophie damit beschäftigt, möglichst genau und fehlerfrei die Wirklichkeit in Sprache darzustellen. Das Lügen zu tolerieren wäre sprachlogisch absolut nicht tolerierbar. Nur Nietzsche sieht in der Sprache sowieso keine Möglichkeit, der Wahrheit und Wirklichkeit gerecht zu werden und deklariert sie gänzlich als eine Lüge.

Ethik und Lüge

In der Ethik werden Lügen unterschiedlich bewertet. Nach Kants deontologischer Ethik, auch Pflichtethik genannt, solle man immer nach der Maxime handeln, von der man zugleich wollen könne, dass sie eine allgemeingültige Regel werde. Wenn man nach Kant eine Lüge, selbst wenn es eine Notlüge wäre, die anderen das Leben retten könnte, als ethisch vertretbar ansehen würde, bedeute dies, dass man zugleich das Lügen in jeder anderen Situation und von jedem anderen Menschen als etwas Richtiges ansehen müsste. Und wer kann das schon wollen?

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Immanuel Kant (1724-1804)

Der Utilitarismus macht es der Lüge deutlich leichter. Die zweckorientierte Ethik, die von Jeremy Bentham und John Stuart Mill entwickelt worden ist, sieht dann eine Handlung als moralisch vertretbar an, wenn dadurch ein möglichst großer Nutzen für alle Beteiligten entsteht. Wenn zum Beispiel ein Jude in der NS-Zeit von einer Familie im Keller versteckt wird und diese von der SS nach ihm gefragt wird, darf sie nach utilitaristischen Prinzipien lügen. Der Nutzen, der dadurch für alle Beteiligten besteht, wäre deutlich höher, als wenn man die Wahrheit sagen würde. Dennoch kann man nicht sagen, dass Bentham und Mill das Lügen prinzipiell gutheißen würden. Je nach Situation und des Nutzens muss sie immer wieder neu bewertet werden.

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Jeremy Bentham (1748-1832)

Marías Rechtfertigung für Lügen

Nun wieder zurück zu dem Roman, der die Frage nach der Daseinsberechtigung von Lügen erst aufgeworfen hat. Vorab muss man sagen, dass Marías es ähnlich wie Nietzsche sieht: Die absolute Wahrheit gibt es nicht. Das Wahrgenommene wird immer subjektiv wiedergegeben, egal wie sehr man sich um Objektivität bemüht. Die meisten Sachverhalte werden von zehn verschiedenen Beobachtern auf zehn unterschiedliche Weisen wiedergegeben. Wie wir aber bereits wissen, ist die Unwahrheit nicht gleichzusetzen mit einer Lüge. Aber auch eine Lüge kann man nicht per se als etwas Schlechtes abstempeln, sondern man muss den Einzelfall betrachten.

Beatriz Lüge

In „So fängt das Schlimme an“ wird mehrmals bewusst die Wahrheit verdreht oder vorenthalten, was bedeutet, dass wir von Lügen sprechen dürfen. So baut Beatriz die Beziehung zu Eduardo auf einer Lüge auf, die sie in einem Streit aufklärt. Eduardo kann ihr nicht verzeihen, dass sie ihm von der Lüge erzählt hat, da nun das ganze Fundament der Ehe zerstört ist. Wäre es besser gewesen, wäre diese Lüge für immer unter den Teppich gekehrt worden? Hätte es nicht für deutlich mehr Harmonie in der Beziehung gesorgt? In den 80er Jahren in Spanien waren Scheidungen nicht leicht durchzuführen und so müssen beide in einer Ehe ohne Vertrauen verharren. Nach Bentham wäre der Nutzen der Lüge wahrscheinlich deutlich höher für alle Beteiligten gewesen als die Wahrheit, die in diesem Fall zu spät kam.

Van Vechtens Lüge

Bei dem Arzt van Vechten ist die Lüge wiederum schwerer zu bewerten. Für wen würde durch seine Lüge ein Nutzen entstehen? Er stellt sich als Wohltäter der Franco-Zeit dar, hat aber seine kostenlosen Behandlungen von Kindern an sexuelle Gefälligkeiten der Mütter gebunden. Mit einer Lüge würde er weiterhin den Ruhm eines selbstlosen Gutmenschen genießen, was wiederum seinen Mitmenschen seinen eigentlich schlechten Charakter vorenthält. So könnten weitere auf seinen Schein hereinfallen, insbesondere Frauen, wie in mehreren Szenen des Buches deutlich wird. Dennoch hat er kranken und armen Kindern geholfen und die Frauen sind diesen „Trade-off“ aus der Not heraus eingegangen.

Juans Lüge

Am Ende des Romans heiratet Juan de Vere die Tochter von Beatriz und Eduardo. Auch diese Ehe baut auf einer Lüge auf, denn während Juan in dem Haus der Familie als Assistent wohnte, schlief er mit Beatriz. Dies hält er vor seiner Frau geheim. Hier würde sich Bentham wieder eindeutig für die Lüge aussprechen, da wohl niemand einen Nutzen von dieser Wahrheit hätte. Juan schlägt so einen anderen Weg als Beatriz ein, die ihre Ehe mit der Auflösung einer Lüge ruinierte.

Manche Lügen sollten wohl besser immer eine Lüge bleiben, denn keiner hätte einen Mehrwert durch ihre Auflösung. Dieser utilitaristische und pragmatische Grundgedanke zieht sich durch das gesamte Buch. Lügen gehören zum Leben dazu und sollten nicht blind verteufelt werden, sondern in ihrem Kontext bewertet werden. Die Figur Eduardo Muriel macht diese Einstellung besonders deutlich. Er hasst seine Frau dafür, dass sie die Last der Lüge nicht tragen konnte und aus reinem Egoismus sich davon befreite. Dies wiederum führte dazu, dass er in seiner Ehe kein Glück mehr empfinden konnte. Seine Missachtung und Respektlosigkeit ihr gegenüber treibt sie letztendlich in den Tod.

Warum lesenswert?

Nicht nur das Lügen spielt in „So fängt das Schlimme an“ eine wichtige Rolle. Liebe, Identität, Erinnerung und Bewältigung der Franco-Vergangenheit sind nur einige weitere Themen, die jedem Leser einen philosophischen und psychologischen Mehrwert in diesem Roman bieten. Insbesondere die Zeit, in der die Geschichte spielt, wirft viele soziokulturelle Fragen auf. Der Übergang von einer faschistischen Diktatur zu einer Demokratie macht es nicht nur schwer, Lügen moralisch richtig zu bewerten, sondern auch sich zu erinnern. Vieles will nicht erinnert werden oder erscheint auf einmal in einem anderen Licht. Welche Teile der Vergangenheit sollten in Ruhe gelassen werden und welche müssen einen Schuldigen finden? Marías macht deutlich, wie kaum ein anderer, dass man die Definitionen von Gut und Böse nicht einfach mit einem Regierungswechsel in der Psyche der Gesellschaft umschalten kann. Es braucht Zeit, eine Moral neu zu definieren.

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Falls du mehr über Javier Marías erfahren willst, klicke auf folgenden Link: https://www.denkbar.net/2021/02/07/javier-marias-ein-literarisches-juwel-aus-madrid/

Ein Kommentar

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