Von 1775 Gedichten wurden zu Emily Dickinsons Lebzeiten nur sieben veröffentlicht. Wer das Leben der Frau, die ihrer Zeit voraus zu sein schien, verstehen möchte, muss in ihr Leben voll und ganz eintauchen. Denn ihr Leben spielte sich nicht in ihren Handlungen oder an verschiedenen Orten ab, ihr Leben war auch nicht durch leidenschaftliche Beziehungen geprägt, sondern ihre Gedanken waren ihre Heimat, ihr Sein. Dominique Fortier versucht in Städte aus Papier dem Leben dieser besonderen Denkerin gerecht zu werden. Ist ihr das gelungen?
Das Leben einer Einsiedlerin
In Amherst, Massachusetts wächst Emily mit ihren calvinistischen Eltern und zwei Geschwistern auf. Schon in der Schule fiel den Lehrern auf, dass Emily ein besonderes Mädchen ist. Lesehungrig und voller Fantasie verschlingt sie die Literatur und verliert sich geradezu in ihr. Ihre besondere Beobachtungsgabe zieht sie immer wieder in den Garten, der voll von magischen Lebewesen und Pflanzen ist.
Ihre Lebensgeschichte ist denkbar unspektakulär, ja, das Spektakuläre ist wahrscheinlich genau das, dass sie verharrt. Weder eine Ehe noch Kinder oder ein Umzug finden sich als Meilensteine in Emilys Lebenslauf. Vielmehr führt sie das Leben einer Einsiedlerin und bleibt bis zu ihrem Tod in dem Haus, in dem sie auch aufgewachsen ist. Kaum einer dringt zu der mysteriösen Dichterin durch und darf sie persönlich antreffen. In ihrem Zimmer verschanzt sie sich und hält die Außenwelt von sich fern. Lediglich ihre Schwester, die mit ihr zusammen in dem Haus der Eltern wohnt, dringt zu ihr vor. Mit 56 Jahren stirbt Emily Dickinson an dem Ort, an dem sie auch auf die Welt kam.
„Man wundert sich über ihre letzten, in der Einsamkeit verbrachten Jahre wie über eine übermenschliche Leistung, und dabei, ich wiederhole mich, müsste man staunen, dass nicht mehr Schriftsteller sich in aller Ruhe zurückziehen und schreiben. Ist das Tollhaus des gewöhnlichen Lebens mit seinen nicht enden wollenden Banalitäten und Pflichten nicht viel übermenschlicher?“
– S.175
Streifzüge durch die Innenwelt
Man könnte sich fragen, wie ein Mensch, der kaum Erfahrungen in seinem Leben gesammelt hat, so berührende Gedichte schreiben kann. Emily Dickinson wandelte nicht in dieser Welt, sondern vielmehr in sich selbst. Dominique Fortier versucht in Städte aus Papier, dieser Lebensart ihrer Protagonistin gerecht zu werden. Um sich ein Bild machen zu können von dem Innenleben der Dichterin, setzte Fortier Gedichte, Briefe und die Eindrücke ihres Hauses zu einem Mosaik zusammen, das sich abhängig vom Betrachter wie ein Kaleidoskop wenden und neu zusammensetzen lässt.
Auch Emily stand am Ende ihres Lebens vor einem Berg von Papierfetzen, die mit ihren Gedichten und Gedanken versehen waren. Sie sammelte sie in einer Schublade. Ihre letzten Jahre versuchte sie sie thematisch zu sortieren und Gedichtbände zu erstellen. Immer wieder fand sich eine neue Anordnung, eine weitere Rotation des Kaleidoskops.
„In Emilys Bücherschrank stehen die Bände in Reih und Glied wie Soldaten in Habachtstellung. In einem Buch sind Vögel, im nächsten Muscheln. Wenn man ein drittes aufschlägt, findet man darin das ganze Sonnensystem: Merkur, Venus, die Erde, Mars, Jupiter, Saturn und Uranus. Dann ist da noch Shakespeares Gesamtwerk. Die Bibel, die nichts als Wahrheit enthält. All das ist in ihrem Zimmer und vieles andere mehr, denn bisher war nicht die Rede von den Heften mit den unbeschriebenen Seiten, die warten auf das, was es noch nicht gibt – die Vögel, Bäume und Planeten, die ihren Kopf bevölkern, diese andere Geheimkammer.„
– S.29
Konventionslose Feministin?
Immer wieder wird die in sich gekehrte Amerikanerin als „ihrer Zeit voraus“ beschrieben. Doch warum? Sie war keine Person, die sich vehement für Frauenrechte einsetzte oder gegen die strenge kirchliche Erziehung ankämpfte. Ihre tiefen Überzeugungen und ihr undogmatisches Denken war das, was sie avantgardistisch machte. Sie konnte nicht an Gott glauben und ebenso wenig verstand sie, warum Frauen nicht arbeiten sollen. Sie ging an die Welt heran wie ein Kind, die unvoreingenommen Zusammenhänge verstehen will. Einige Phänomene der Gesellschaft konnte sie aber nie verstehen, da sie keine logische Erklärung dafür fand. Warum dürfen Frauen keine Anwältinnen werden? War sie nicht sogar belesener als die meisten Männer in ihrem Umkreis?
Emily Dickinson war keine laute, demonstrierende und schreiende Feministin. Sie weigerte sich nur Dogmen und Glaube anzunehmen, wenn es für sie keinen wahren Grund dafür gab. Vielleicht macht genau diese Art zu denken, die es gar nicht zulässt, eine Ungleichheit zu sehen, die Dichterin zu „ihrer Zeit voraus“.
Lesbar?
Städte aus Papier ist ein besonderes Buch. Dominique Fortier schafft eine Stadt aus Papier, in der Emily Dickinson einst lebte. Fortier verzichtet auf die Wiedergabe von Fakten aus Emilys Leben, sondern entführt ihre Leserschaft vielmehr in die Gedankenwelt der Protagonistin. Diese entnahm sie aus all den Gedichten und Briefen, die Emily zu ihren Lebzeiten niederschrieb. Sie war eine Frau, die sich, wie Fortier schreibt, zurecht von der Außenwelt abkapselte, denn wie solle man vernünftig schreiben und seine Gedanken hören, wenn man umgeben von dem Rest der Welt wäre? Sie war eine Dichterin, die nichts künstlich erschaffen wollte, sondern ihr Schaffen tief in sich trug. Sie war ihre Kunst.
Dieses Buch ist voll von wunderschönen poetischen Sätzen, auf denen man gedanklich herumkauen kann. Es gibt wohl kaum eine bessere Form, die dem Lebenswerk der Emily Dickinson so gerecht hätte werden können.
„Ich bin mir sicher, Emily Dickinson hat nie versucht, Asche zu erschaffen. Feuer? Vielleicht. Aber eigentlich glaube ich, die Flammen loderten auf ihrem Weg auf, ohne dass sie es merkte, so vertieft war sie darin, ihre Blumen zu gießen.“
– S.110