„Treue Seelen“ von Till Raether: Liebe in den Zeiten Tschernobyls

kulli-kittus-KQfxVDHGCUg-unsplash

Ein geplanter gemeinsamer Neuanfang mit der eigenen Partnerin soll zu bisher unentdeckten Gefühlen und Abenteuern führen. Macht er auch – aber mit einer anderen Frau.

Neuanfang in Berlin

Die Protagonisten Achim und Barbara verlassen ihre provinzielle westdeutsche Heimat, um im geteilten und aufregenden Berlin im Jahre 1986 einen spannenden Neuanfang zu wagen. Achim tritt einen gut bezahlten Job als Prüfingenieur in der Bundesanstalt für Materialprüfung an und Barbara hat nach einem kurz vor dem Examen abgebrochenen Soziologiestudium ein Romanistikstudium an der Freien Universität Berlin begonnen. Sie haben eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, das während der NS-Zeit SS-Offiziersfamilien als Heimstatt diente.

Alltag und Reaktorunglück

Vor dem Hintergrund der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die das ganze Land in Atem hält, tun die beiden sich schwer, gemeinsam anzukommen. Wenngleich Achim es gut schafft, sich in seinem neuen Arbeits- und Wohnumfeld einzuleben, fühlt Barbara sich allein und verunsichert. Sie ist förmlich paralysiert und fast ein wenig hysterisch durch die von allen Medien auf die Bürger niederprasselnden Warnungen, Tipps und Hinweise bezüglich der nuklearen Gefahren aus der Luft, der Nahrung, dem Regen und dem Wind. Die Wohnung zeigt sich noch Wochen nach dem Einzug voll unausgepackter Kartons, unaufgehängter Bilder und nicht zusammengebauter Möbel ungemütlich und kalt. Selbst das Bett steht noch nicht und so muss die auf dem Boden liegende Matratze reichen.

Die Affäre

Beim Wäscheaufhängen auf dem Dachboden ihres Hauses trifft Achim auf die ein paar Jahre ältere und durchaus attraktive Nachbarin Marion, einer verheirateten Frau mit Zwillingen.

Es entspinnt sich rasch zwischen den beiden eine erotische Beziehung, die mehr und mehr kaum zu verbergen ist. Achim fühlt sich sehr zu der selbstsicheren, etwas schroffen aber auch unverkrampften Frau mit Ostwurzeln hingezogen.

Die geheimnisvolle Vergangenheit Marions führt die beiden auf der Suche nach Liebesverstecken in deren alte Heimat Ost-Berlin und ehe er sich versieht, steckt Achim in einem nicht ungefährlichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Ost- und Westberlin.

Unterschiedlicher Umgang mit Krisenzeiten

Die angestrebte positive Veränderung des Alltags stellt sich durch den Ortswechsel von Bonn nach Berlin für Barbara und Achim nicht ein. Die Tschernobyl-Katastrophe lässt Barbara nicht zur Ruhe kommen und zeigt Achim seine Frau von einer ihm bisher verborgen gebliebenen Seite. Der Grund für ihre hysterische Überreaktion liegt aber sicherlich an dem ohnehin fragilen Verhältnis zwischen den beiden. Sie interpretiert seinen eher unemotionalen und sachlichen Umgang mit der Katastrophe als mehr und mehr trennenden Faktor. Je weniger sie ankommt in der neuen Heimat, desto mehr tut er es.

Langsames Auseinanderleben

Es zeigt sich, daß der Wunsch wackeliger Beziehungen sich durch radikale Umgebungsveränderungen zu gesunden, oft ein unerfüllter bleibt. Man nimmt seine Probleme mit in die neue Stadt und meint, hier würde alles besser werden. Den Faktor Tschernobyl einmal ausgenommen, hätte es vielleicht klappen können. Dennoch schlummern in Achim offensichtlich unerfüllte erotische Wünsche, die durch das Kennenlernen Marions erweckt werden und ihn nur in eine Richtung, nämlich weg von Barbara führen. Das dann folgende Abenteuer bringt ihn in bisher unbekannte, aufregende Terrains, die ihm das erste Mal die Chance geben, sich selbst in neuen Situationen zu behaupten und zu beweisen.

Berechtigte Abenteuerlust?

Er verlässt seinen sicheren Kokon und stellt sich, fast ein wenig naiv, durchaus gefährlichen und Angst einflößenden Situationen mit offenem Ausgang. Das er diese Momente erstaunlich ruhig und rationell bewältigt, ist zum einen wohl seiner technisch-logischen Veranlagung und zum anderen seines persönlichen “Entfesselns“ zuzuschreiben. Er spürt wortwörtlich, dass er lebt. Mit allen Konsequenzen – und sogleich landen wir in diesem alten, offensichtlich nie versiegenden Narrativ: „Es ist nie zu spät –  also packen wir‘s an!“

Warum auch nicht – das ist der Stoff aus dem seit Menschengedenken Märchen, Romane, Filme, Musik und alles, was uns unterhält, gemacht wird.

Lesenswert?

Till Raether führt einen mit diesem Buch in den ganz speziellen Zeitkorridor der Tschernobyl-Katastrophe, der den Anfang vom Ende des Ostblocks markierte und 1989 zu dessen Zusammenbruch führte. Dieser Hintergrund schafft eine spannende Kulisse für die Beziehungsgeschichte zwischen Barbara und Achim. Raether schafft es gut den Mikrokosmos dieses Mehrfamilienhauses in Westberlin darzustellen. Zeitzeugen werden einige geschilderte Gedankengänge der Protagonisten gut nachvollziehen können und wohl auch durchaus Freude daran haben. Es war die Zeit der Friedensbewegung, der Abrüstungsforderungen, der Anfänge der Grünen und der weißen Friedenstaube auf blauem Grund. Zeit für viele interessante und aufregende Geschichten.

Treue Seelen von Till Raether – Seitenzahl: 352 Seiten – Preis: 20 Euro

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, dann vielleicht auch diese:

5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen von Bronnie Ware: Eine einfühlsame Begegnung mit Lebensenden

Unzertrennlich von Irvin D. und Marilyn Yalom: Eine Geschichte über die Flüchtigkeit des Lebens

Schreibe einen Kommentar