Übersehene Geschwister von Jana Hauschild: Das Leben mit psychisch Erkrankten

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Geht es nach der Vorstellung von Francois Rabelais, dann sind Kinder keine leeren Gefäße, die gefüllt werden sollen, sondern Feuer, die entzündet werden wollen.

Doch bei einigen kann der zündende Funke nicht ungehindert überspringen, wenn gewisse Störfeuer dazwischenfunken. Die Rede ist von psychischen Erkrankungen der Geschwister. In der Regel gibt es kaum einen anderen Menschen im Leben eines Geschwisterkindes, der den eigenen Lebensweg derart lange begleitet wie Brüder oder Schwestern. Deshalb nennt die Trägerin des Preises für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) – Jana Hauschild –  diese Familienmitglieder auch Lebensbegleiter. Sie gibt gesunden Brüdern und Schwestern eine Stimme, indem sie Betroffene zu Wort kommen lässt, die sie für ihr 2019 erschienenes Buch interviewte.

Ach diese Lücke(n)! Diese entsetzliche(n) Lücke(n), die …

hier nicht der junge Werther aus Goethes Feder bekundet, sondern das Thema der übersehenen Geschwister als solches, da es eher stiefmütterlich behandelt wird. Mehr noch: Die Bedürfnislage dieser Menschen ist für die einen ein blinder Fleck, für die anderen ein zu heißes Eisen, das man lieber unberührt liegen lässt.

„Die Gesellschaft übersieht sie. Nicht nur die Eltern, auch Professionelle haben oft nicht im Blick, was die Erkrankung eines Kindes oder Jugendlichen mit dem Bruder oder der Schwester desjenigen macht. Zugleich nehmen die meisten Geschwister zur Entlastung der Eltern intuitiv einen Platz im Hintergrund ein, halten sich bedeckt, wollen keine weiteren Ressourcen aufbrauchen. Sie sind Schattenkinder. Und doch geht ihnen das Leid des anderen nicht minder nahe, betrifft es ganz direkt und verändert auch ihr Leben.“

Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter, S. 16

Zwölf Betroffene + ein weiteres Geschwisterkind

Es kommen zwölf Geschwister vor. Sie sind aus unterschiedlichen Herkünften, Altersstufen und von diversen Karrierewegen geprägt. Über sechs Hauptkapitel hinweg [Übersehen • Gefühlschaos • Familienbande • Mein Leben • Hilfen für Geschwister • Anhang] und mit weiteren Unterkapiteln versehen (siehe Link unten), wird der vielseitige und mehrdimensionale Themenkomplex nach und nach aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Das weitere Geschwisterkind ist übrigens Jana Hauschild selbst, die an verschiedenen Stellen Passagen über ihren älteren Bruder einstreut. Zusätzlich erzählen bspw. Rahel, Nora, Thorben oder Carolin von ihren Erfahrungen mit ihren Brüdern und Schwestern und deren psychotischen Phasen, den Depressionen, den bipolaren Störungen oder der Schizophrenie, um nur einige zu nennen.

Trotz biografischer Diversität und verschiedenen Krankheitsformen gelingt es Hauschild, Licht ins Dunkel der jeweiligen Lebenswelten zu bringen, sodass dabei gleich mehrere Gemeinsamkeiten in den individuellen Lebenswegen zutage kommen. So gibt es bspw. eine gemeinsame nebulöse Hemmnis, die Hauschild als »Überlebensschuld« bezeichnet und die als Antagonistin zum Lebensglück verstanden werden kann. Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht. Folglich lassen sich auch positive Gemeinsamkeiten aufzeigen, die u.a. mit der Bindung an die erkrankte Schwester oder den erkrankten Bruder zu tun haben – wenn diese auch nicht bei allen der Fall ist.  Zusätzlich belässt es Hauschild nicht einfach nur bei den Themen, die sich aus den Interviews ergeben. Es finden auch weitere Wissenschaftler aus dem psychologischen Metier Erwähnung:

»Wenn Sie eine Frucht vom Baum nehmen, die zu grün ist, dann hat sie keine Chance, weiterzuwachsen und zu reifen«, zieht der US-amerikanische Psychologe und Bruder zweier psychisch Erkrankter, Rex Dickens, den Vergleich. »Sie werden in ihrer Entwicklung einfach aufgehalten.« Die Kinder und Jugendlichen kollidieren mit der schmerzhaften Realität der Welt, in einer Zeit, da sie darauf noch nicht vorbereitet sind. Ihnen fehlen im Vergleich zu Erwachsenen Wege, mit überfordernden Gefühlen umzugehen. Trauer zu verarbeiten, eigene Bedürfnisse zu äußern. Das sind Strategien, die viele erst mit den Jahren lernen, die zum Erwachsenwerden gehören. Erkrankt das Geschwister früh im eigenen Lebensverlauf, brauchen sie diese Kompetenzen aber schon, wenn sie vielleicht gar nicht vorhanden sind oder noch in Kinderschuhen stecken.“

Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter, S. 140

Resilientes Nachreifen

Mit Hauschilds Erarbeitung zeigt sich, dass das verfrühte Baumschütteln nicht zwangsläufig zu einem Wachstumsstopp führen muss – das Gegenteil ist eher der Fall! Eine der positiven Gemeinsamkeiten, die auch in den weiteren erwähnten Studien belegt wird, ist der höhere Zugewinn an Fähigkeiten, die man neuerdings als social Skills – wie die Empathie – bezeichnet. Zusätzlich lassen sich in nahezu allen Fällen individuelle achtsame Strategien bzgl. Konfliktmanagement und emotionaler Stressregulation finden. Die Achtsamkeit basiert hier weniger auf dem gegenwärtigen Begriff der „Mindfulness“, sondern obliegt der gesteigerten sensiblen Wahrnehmung, was innere und äußere Grenzziehungen und -beachtungen im Sinne einer Art psychologischer Hygiene anbelangt.

„Die emotionale Belastung überschattet oftmals alles, was wir aus den Jahren mit unseren Geschwistern gelernt haben. Hier braucht es ab und an mal ein Spotlight, das die gewonnenen Kräfte ausleuchtet, deutlich sichtbar macht.“

Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter, S. 166

Kann es auch mich treffen?

Bei vielen der betroffenen gesunden Geschwister gestaltet sich die Fragestellung in der Überschrift wie ein Damoklesschwert. Sei es nun kurz- oder mittelfristig. Im Laufe der Zeit sind zwar viele der aufkommenden Personen dieser Selbstbefragung entwachsen, jedoch ist dies stets ein Prozess, der sich nicht von allein entwickelt, sondern auch eine Frage der Suche nach entsprechenden Informationen bzw. Anlaufstellen. Ferner ist diese Frage aber auch mit Blick auf den beschleunigten Zeitgeist mitsamt aller dazugehörigen sinnvollen und sinnbefreiten Betriebsamkeiten vielleicht am Ende sogar eine, die nie ganz aus dem Bewusstsein entschwindet. Vielleicht ist sie sogar ein guter Selbstschutz, um nicht in zeitgenössische Hitzewallungen zu geraten.

Betrachtet man nun das Selbst-Welt-Verhältnis aus einem philosophischen Blickwinkel, nämlich der kantischen Frage »Was soll ich tun?«, so lässt sich ein Ansatz wie folgt finden:

„Auf der US-amerikanischen Internetseite schizophrenia.com finden sich […] Statistiken. Sie hinterlassen eine ermutigende Nachricht: »Es gibt viele Dinge, die ein Mensch tun kann, um sein eigenes Risiko für Schizophrenie oder eine andere psychische Erkrankung zu senken«, heißt es darin. Der beste Schutz sei sich selbst und seinen Körper zu kennen sowie alles dafür zu tun, gesund und glücklich zu leben.“

Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter, S. 142

Mögen die alten Weisen sich zwar nicht der Mittel objektiv überprüfbarer Empirie bedient haben; dennoch fanden sie genügend Mittel und Wege, die die erwähnte Selbstkenntnis oder das Streben nach Glück zum Gegenstand machten. Was hier anklingt ist ein freundlicher bzw. freundschaftlicher Umgang mit sich selbst oder die Lebenskunst als solche – man denke an Aristoteles, Seneca, Marc Aurel, Michel de Montaigne oder im aktuelleren Sinn an Dieter Thomä oder Wilhelm Schmid.

Lesenswert?

Nun, lesenswert ist es durchaus – allerdings in erster Linie für betroffene Geschwister und vielleicht in zweiter Linie für betroffene Eltern oder weitere Familienmitglieder. Wenn man weiter bedenkt, wie viele Menschen von der großen Bandbreite des ICD-10 Diagnoseschlüssels (F00 – F99) statistisch betroffen sind und wiederum nicht alles Einzelkinder sind, so ist das Buch sicherlich empfehlenswert.

Es ist nicht nur ein thematischer Lückenfüller auf dem Gebiet der psychologischen Sachbücher, es versprüht auch durch den ausführlichen Anhang mit zahlreichen Informationsmaterialen zugleich viele Funken zur Selbsthilfe. Vor allem kann es für Betroffene erhellende Momente dahingehend spenden, da sie mit ihrer biografischen Ausgangslage weit weniger alleine sind als vermutlich angenommen.  

Und wer weiß, wie weit die Flammen sichtbar sind, wenn sie erstmal brennen. In einem bekannten Film über einen Ring hat das Leuchtfeuer von Amon DÎn jedenfalls weitreichende Auswirkungen.

In diesem Sinne: Zündet eure Feuer!

Weitere Informationen über Jana Hauschild findest du hier: https://www.jana-hauschild.de/

Inhaltsverzeichnis sowie eine Leseprobe sind hier zu finden: https://www.beltz.de/sachbuch_ratgeber/buecher/produkt_produktdetails/36222-uebersehene_geschwister.html

Übersehene Geschwister
Das Leben als Bruder oder Schwester
psychisch Erkrankter
von Jana Hauschild
231 Seiten
17,95 €

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