… und trotzdem Ja zum Leben sagen von Viktor E. Frankl – Von einem der auszog, eine Sinnfindung zu stiften

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Zwei Begriffe, die seit einiger Zeit durch unseren Zeitgeist fliegen, sind Resilienz und Achtsamkeit. Damit ist einerseits die psychologische Widerstandskraft und andererseits die bewusste Wahrnehmung gemeint. Im Kern geht es kurz- bis mittelfristig um das Wie der Lebensgestaltung. Langfristig um das Gelingen des Lebens, das gerne dann als vermeintlich gelungen gilt, wenn das Leben in seiner Summe eine Aneinanderreihung von guten Tagen aufweist. Demzufolge lautet das gegenwärtige Credo noch immer so: Pflücke den Tag (Carpe diem)!    

Doch die Frage danach, ob (d)ein Leben gelungen ist oder nicht, lässt sich erst so richtig gegen Ende (d)einer Lebensreise beantworten, oder? Trotzdem wäre es bereits vorher gut, wenn man möglichst früh eine innere Sicherheit über die eingeschlagene Richtung besäße, nicht wahr? Folglich keimt die Frage nach dem Sinn des Lebens auf; nicht zuletzt auch deswegen, weil Aufkeimen und Wachsen von der Witterungsbedingung abhängig ist; und die Sinnfrage keimt häufig dann auf, wenn die Witterung unklar oder ungünstig ist.

Für Frankl geht dem Wie ein Warum voraus

Frankls Witterungsbedingungen waren in der Blütezeit seines Lebens unfassbar ungünstig, was man am Untertitel des Buches ablesen kann: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Seine Zeit als KZ-Häftling ging zusätzlich mit einem hohen familiären Verlust geliebter Menschen einher, was seine Eltern, seine erste Frau sowie seine Geschwister – bis auf eine Schwester – betraf. Nachdem sich die gesellschaftlichen Witterungsverhältnisse der Nachkriegszeit wieder allmählich gebessert hatten, entwickelte Frankl ein existenzanalytisches Konzept, das unter dem Begriff der Logotherapie bekannt wurde und sich als die dritte große Wiener Schule der Psychotherapie fest etablierte. Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Szenarien drängt sich (s)ein Wie auf: Wie war ihm diese Leistung möglich?

„Die Devise nun, unter der alle psychotherapeutischen oder psychohygienischen Bemühungen den Häftlingen gegenüber stehen mussten, ist vielleicht am treffendsten ausgedrückt in den Worten von Nietzsche: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.«“

…und trotzdem Ja zum Leben sagen. 18. Auflage 1999, S.124

… und trotzdem Ja zum Leben sagen kann als anfänglicher Keimling für die Logotherapie erachtet werden. Frankl verfasste … und trotzdem Ja zum Leben sagen unmittelbar nach seiner Zeit im Konzentrationslager und schrieb es innerhalb von neun Tagen zusammen. Es ist chronologisch in drei Phasen unterteilt. Phase eins: Die Aufnahme in das Konzentrationslager. Phase zwei: Das Lagerleben und in eine dritte Phase: Nach der Befreiung aus dem Lager. Unter dem Titel »Synchronisation in Birkenwald« befindet sich im Anschluss noch eine theatertextliche Konferenz, mit der man sich am besten auch erst nach der eigentlichen Lektüre befassen sollte, da wiederkehrende Elemente als solche wichtig sind.    

Lebendige Geschichte und zeitlose Lebendigkeit

Während der Lektüre oszilliert der Fokus des Erlebnisses zwischen Frankls Beobachtungen der Mithäftlinge, dem gemeinsamen Gedankenaustausch, vereinzelten therapeutischen Interventionen sowie eingestreuten psychologischen Hintergründen. 

„Empfindsame Menschen, die von Haus aus gewohnt sind, in einem geistig regen Dasein zu stehen, werden daher unter Umständen trotz ihrer verhältnismäßig weichen Gemütsveranlagung die so schwierige äußere Situation des Lagerlebens zwar schmerzlich, aber doch irgendwie weniger destruktiv in Bezug auf ihr geistiges Sein erleben. Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen. So und nur so ist die Paradoxie zu verstehen, dass manchmal die zarter Konstituierten das Lagerleben besser überstehen konnten als die robusteren Naturen.“      

… und trotzdem Ja zum Leben sagen. 18. Auflage 1999, S.124  S. 63

Im Grunde ist der logotherapeutische Ansatz ein sinnzentrierter Ansatz, der in diesem Buch als Frankls Überlebensstrategie heranwächst und sich seither als Lebensstrategie in der Welt erweitert und verstreut hat. Speziell die Kombination aus der dunkelsten Episode deutscher Geschichte sowie des Umstandes der Frankl´schen selbsterlebten Szenarien macht das Werk aus heutiger Sicht zu einer besonderen Lektüre, da der Kontrast dazu in dem „Trotzdem“ mitschwingt. Ein positives Verständnis des Trotzes: Eine Widerspenstigkeit gegenüber den Witterungsbedingungen, um auch die weniger guten Tage anzunehmen und hinsichtlich eines sinnhaften Anteiles näher zu betrachten. Gleichzeitig schwingt spürbar eine tiefe Form der Demut mit, angesichts der damaligen Umstände.       

„Und dann sprach ich schließlich noch von der Vielfalt der Möglichkeit, das Leben mit Sinn zu erfüllen. Ich erzählte meinen Kameraden […] davon, dass menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe, und dass dieser menschliche Sinn des Daseins auch noch Leiden und Sterben, Not und Tod in sich mit einbegreife.“

… und trotzdem Ja zum Leben sagen. 18. Auflage 1999, S.124  S. 133

Wenn auch im Allgemeinen das oben erwähnte Bedürfnis nach möglichst früher Orientierungssicherheit bzgl. der Lebensgestaltung zutiefst menschlich und verständlich ist, so ist die individuelle Selbst- und Welterkundung weit weniger verständlich, sondern vielmehr komplex, dynamisch, veränderbar und von Witterungsbedingungen abhängig. Frankl ermutigt uns dazu, dem Wie der unguten Tage zu trotzen und dem Warum mehr Pflege zukommen zu lassen. Denn je stärker das Warum, desto weniger ausgeprägt scheint die Wetterfühligkeit beim Wie zu sein. 

Lesenswert?

Im Verlauf der Lektüre vertieft sich das Verständnis über den Sinnbegriff und dessen Bedeutung und Verflechtung in einem philosophisch-psychologischen Zusammenhang. Zusätzlich keimt die Sinndimension in ihrer wandelbaren Breite auf, wodurch ein Überdenken der Formulierung der Sinnfrage provoziert wird. …und trotzdem Ja zum Leben sagen ist nicht nur eine besondere Form erbaulicher Lektüre, sondern zusätzlich auch ein historisch-politisches Wachhalten.

Wer nun allerdings die leise Hoffnung auf das Finden des eigenen Sinnes in diesem Werke hegt, der muss leider auf die Erkundung der eigenen inneren Landschaft vertröstet werden. Jedoch kann Frankl hierbei ein lohnenswerter Nährboden sein.

In diesem Sinne endet dieser Artikel auch mit Nietzsche: „Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein.“

Weitere Informationen über Viktor E. Frankl findest du bspw. hier:

https://www.aerzteblatt.de/archiv/45863/Viktor-E-Frankl-Willen-zum-Sinn

Viktor E. Frankl: … und trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Portrait:

https://www.youtube.com/watch?v=TFVCS6q5uIo  

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