Von der Pflicht von Richard David Precht: Was ist der Bürger seinem Staat schuldig?

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Auch wenn die Corona-Pandemie für viele schwere finanzielle Einbußen und Vereinsamung bedeutet, so bietet sie doch auch viel Raum zum Nachdenken. Die Isolation von Freunden, Arbeitskollegen und teilweise auch der Familie schafft eine gewisse Distanz zu dem Ist-Zustand unserer Gesellschaft. Richard David Precht, der wohl bekannteste Popularphilosoph in Deutschland, reflektierte das Pflichtbewusstsein der deutschen Bevölkerung in seinem Essay „Von der Pflicht“.  Inwiefern hat der Staat ein Recht darauf, unsere Freiheit zugunsten des Infektionsschutzes einzuschränken? Werden wir in Zeiten des Kapitalismus und dem damit einhergehenden Egoismus unserer gesellschaftlichen Verantwortung überhaupt noch gerecht?

Der Staat im Ausnahmezustand

Auf einmal war sie da – die Corona-Krise! Selten standen sowohl Bürger als auch Politiker vor einer derartigen Herausforderung. Zunächst noch in weiter Ferne geglaubt und belächelt, trifft der Virus im März 2020 mit voller Kraft auf Deutschland. Es gibt weder Impfstoff noch Medikament, nicht genug Masken und die Krankenhäuser waren dazu aufgefordert, die wenigen Betten der Intensivstationen möglichst freizuhalten. Der erste Lockdown legt das ganze Land lahm. Schulen werden geschlossen, die Arbeitnehmenden ziehen ins Homeoffice und Altenheime und Krankenhäuser werden gänzlich von der Außenwelt abgeschottet. Alle Bürger werden dazu angehalten, Haus oder Wohnung nur zu verlassen, wenn es dringend notwendig ist und möglichst alle sozialen Kontakte zu meiden. Die Polizei kontrollierte auf öffentlichen Plätzen, dass sich nicht mehr als zwei Leute auf die gleiche Bank setzten. Gastronomie, Tourismus und die gesamte Kulturindustrie mussten schwere Einnahmenausfälle in Kauf nehmen.

Kurzum, unser Alltag nahm dystopische Zustände an. Die Maßnahmen, die zu der Eindämmung der Pandemie beitragen sollten, gefielen natürlich nicht allen. Sie wurden ein langersehntes Futter für Verschwörungstheoretiker, radikalen Linken und Rechten, Impfgegnern und allerhand weiteren Nischengruppierungen der Gesellschaft. Das Unerklärliche musste erklärt werden, so entstanden abstruse Theorien über die Entstehung des Virus.

Die Pflicht des Staates

Wie Precht zu Beginn seines Buches betont, stellen diese Gruppierungen lediglich eine Minderheit in Deutschland dar. Der Großteil der Bevölkerung zeige sich solidarisch und halte die Maßnahmen für sinnvoll. Prechts Position in diesem Diskurs ist eindeutig: Der Staat sei dazu verpflichtet, das Leben aller zu schützen und das sei nur möglich, wenn gewisse Maßnahmen das Infektionsrisiko minimieren und so diejenigen geschützt werden, die eine Erkrankung mit dem Coronavirus nicht oder kaum überleben können.

Mangelndes Pflichtgefühl der Bürger

Nun gut, das ist bisher nichts Neues und lediglich eine Aussage, die man in den letzten Monaten in zahlreichen Formen und Farben aus den Mündern der Politiker gehört hat. Die Pflicht des Staates ist einleuchtend, da diese sogar im Grundgesetz verankert ist. Worüber sich der Philosoph Sorgen macht, ist das Pflichtgefühl der Bürger. Eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber dem Staat mache sich breit und kaum noch einer sehe sich dafür verantwortlich, seinen eigenen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen.

Geschuldet ist diese Einstellung den alles durchdringenden Kapitalismus. Die Konsumkultur konditioniere den Einzelnen, dass man stets seinen eigenen Vorteil im Vordergrund seiner Handlung sehen soll. Er nennt hier als Beispiel den Bahnticketerwerb. So mache der Käufer das Rennen, der Monate vorher im Internet als Erster das Ticket bucht. Frühbucherrabatte, Preisnachlässe auf Online-Tickets etc. würden dem ehrlichen Rentner, der seine Fahrkarte im Büro am Bahnhof erwirbt, abhängen. Getreu dem Motto „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ würden wir mit derartigen Angeboten eine unsolidarische Gesellschaft manifestieren.

Während die Angst vor dem eigenen Erkranken in der Corona-Pandemie dieses Pflichtgefühl aktiviert habe, mache sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen die Entpflichtung deutlicher bemerkbar. So stelle sich kein solidarisches Konsumverhalten zugunsten des Klimas ein. Die Verkaufszahlen von SUVs steigen jährlich. Wir leben einen radikalen Liberalismus, eingebettet in einem Sozialstaat, der uns in unseren persönlichen Krisen stets unterstützen soll, wir aber wenig gewillt sind, eine Gegenleistung zu erbringen.  Nach Precht funktioniere unser Staat so nicht.

Die Lösung: zwei soziale Jahre

Um die Gesellschaft wieder an ihre sozialen Verpflichtungen zu erinnern, schlägt Precht vor, zwei soziale Jahre einzuführen – eins direkt nach der Schule und eins vor dem Eintritt in die Rente. Das erfülle nicht nur den Zweck, viele Nischentätigkeiten im sozialen Bereich wieder abzudecken, sondern stärke auch das Pflichtbewusstsein des Einzelnen. Ein Gedanke, den Precht schon seit längerer Zeit in Talkshows immer wieder fallen lässt und dabei jedes Mal zahlreiche Gegenargumente kassiert, die er auf den letzten Seiten seines Buches vehement versucht, auszuhebeln.

Lesenswert?

Es scheint so, als ob Precht auf den 176 Seiten seiner Bürgerplicht nachkommen will: Mit Nachdruck die Corona-Maßnahmen für richtig zu erklären und die, die diese nicht befürworten, zu verteufeln und ins Lächerliche zu ziehen. Das Pflichtgefühl, sich in Pandemiezeiten solidarisch zu zeigen, lobt er zu Beginn seiner Abhandlung, denn schließlich sei es nur eine kleine Minderheit, die sich dagegen wehren würde. Doch irgendwie scheint Precht im Laufe des Büchleins noch einzufallen, dass die moderne Konsumgesellschaft eigentlich nicht mehr weiß, was soziale Verantwortung überhaupt ist.

Es schlängeln sich zwischen seine biedere Verteidigung aller coronabedingten Maßnahmen immer wieder kleine Umwege in die Umweltpolitik und hier und da fällt ein Name eines Staatstheoretikers. Seine Lösung, die Bürger durch zwei soziale Jahre mehr in die Pflicht zu nehmen, ist durchaus ein guter Gedanke, aber leider auch nicht innovativ.

Precht schätze ich für seine Bücher, in denen er schwere Kost der Philosophie für ein breites Publikum einfach und unterhaltsam erklärt.  Aber dieses Buch wirkt so, als ob er sich in einer düsteren Quarantäne-Phase ein wenig in seinen Gedanken vergaloppiert hat. Hier fehlt der rote Faden, die Tiefe, die diesem Thema durchaus gerecht werden könnte, und ein angemessener Ton. Während er zu Beginn noch schlüssig mit Gesetzen für die Duldung der Einschränkungen argumentiert, wirkt er im Laufe des Buches immer irrationaler. Am Ende verteidigt er in einem nahezu beleidigten Tonfall seinen Lösungsvorschlag, der, in seinen Augen, unberechtigterweise viel Kritik einstecken musste. Das ganze Buch über wartete ich auf einen großen Aha-Moment, aber da kam leider nichts.

Ja, wir wissen alle, warum es diese Maßnahmen gibt, sonst würden sie von so vielen Leuten auch nicht hingenommen werden und ja, wir wissen auch, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Dass diese Gegner aber neben jeder Menge Unsinn, auch manchmal berechtigte Kritik äußern, wird hier nur am Rande erwähnt. So dümpelt alles an der Oberfläche vor sich hin und nicht selten erwischt man sich bei dem Gedanken, dass Precht dieses Buch vielleicht etwas zu schnell geschrieben hat.

Richard David Precht
Von der Pflicht – Eine Betrachtung
176 Seiten
18 Euro

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