Schon Darwins Feststellung, dass wir von dem Affen abstammen, galt im Jahr 1871 als revolutionär und sorgte in elitären Kreisen für Empörung. Gott hätte dem Menschen doch schließlich eine Sonderstellung zugesprochen und ihn mit Sitte und Moral ausgestattet. Heutzutage bezweifelt kaum noch einer diese evolutionäre Theorie und sie ist fester Bestandteil im Biologieunterricht in zahlreichen säkularisierten Ländern. Dennoch leugnen wir unsere Abstammung mehr denn je und grenzen uns durch unser rücksichtsloses und erhabenes Verhalten immer weiter von der Tierwelt ab. Melanie Challenger ermahnt uns in ihrem Buch „Wir Tiere“, unseren Ursprung nicht zu vergessen.
„Die Welt wird heute von einem Tier beherrscht, das sich nicht als Tier begreift.“ – So beginnt Challenger ihre interdisziplinäre Abhandlung und offenbart somit bereits im ersten Satz das, ihrer Meinung nach, Kernproblem dieser Welt. So dreht sich doch stets alles darum, wie wir uns von den Tieren unterscheiden und so selten, welche Gemeinsamkeiten wir eigentlich haben. Challenger betrachtet das Zusammenleben von Mensch und Tier aus einer ganz neuen Perspektive: Wie wäre es, wenn wir uns einmal bewusst machen würden, wie viele Parallelen wir zu unseren tierischen Erdbewohnern haben?
Wir definieren uns zu oft über unseren hohen Intellekt oder eine gottgegebene Seele, die uns über die Tiere erhaben sein lässt. Während diese sich primitiv auf ihre Instinkte verlassen müssen, kann der Mensch seine Triebe kontrollieren und sie mit dem Verstand steuern. Davon gehen wir zumindest aus. Dass das ein Irrglaube ist, macht Melanie Challenger in den folgenden Kapiteln deutlich.
„Wir sind Tiere, wenn wir unsere Zähne in das Fleisch auf unserem Teller schlagen, aber nicht am Arbeitsplatz. Wir sind Tiere, wenn wir auf dem Operationstisch liegen, aber nicht, wenn wir von Gerechtigkeit sprechen. Dieser Riss durch die Menschheit soll uns vor der Sinnlosigkeit der kreatürlichen Existenz bewahren, und er ist das Fundament, auf dem wir unsere ganze Welt errichten.“
In „Wir Tiere“ von Melanie Challenger, S.13
Wie wir dieses Vergessen über unseren Ursprung seit Jahrhunderten perfektionieren, kann man in zahlreichen Bereichen unserer Gesellschaft erkennen. Durch Genmanipulation treiben wir es auf die Spitze und glauben, dass wir uns bis ins Grenzenlose optimieren können, vor dem Altern entkommen und uns unsterblich machen.
Wir brüsten uns mit unserem Sinn für Moral und Gerechtigkeit, und nehmen dennoch das Aussterben der Artenvielfalt schulterzuckend hin. Sollte sich nicht jeder die Frage stellen, inwiefern Tiere auch einen Verstand und Gefühle haben und somit auch ein Recht auf einen moralisch vertretbaren Umgang? Challenger belegt durch zahlreiche Studien unterschiedlichster Forschungsbereiche, dass unsere tierischen Artgenossen uns in kaum einem Punkt wirklich unterlegen sind. Häufig sind es sogar die Tiere, die mit ihren ausgeprägteren Sinnen und Instinkten uns ausstechen.
Das Tierreich bietet viele Beispiele dafür, dass sich unsere Grundbedürfnisse kaum unterscheiden. So leben Papageien ihr Leben lang mit einem Partner zusammen und entwickeln sogar besondere Ständchen, die sie nur für diesen Partner singen. Romantik ist also auch ein tierisches Bedürfnis.
Auch in Pandemiezeiten gehen Tiere ähnlich vor wie wir Menschen: Die Kranken werden isoliert, damit sie die anderen nicht anstecken – ein Verhalten, das wir insbesondere in Corona-Zeiten auch in unseren Reihen beobachten können.
Challenger versucht mit zahlreichen weiteren Forschungsergebnissen deutlich zu machen, dass wir uns keineswegs nur über unseren Geist oder die Seele definieren können. Das Körperliche macht einen großen Teil unserer Identität aus und somit auch das Tierische. Bevor wir überhaupt dieses Körperliche durch Technologien und Maskerade verstecken können, starten wir alle in unser Leben nackt, hilflos und instinktgeleitet. Die Mutter-Kind-Beziehung legt von Geburt an bei allen Säugetieren die Grundlage für ein soziales Miteinander. Durch die Ausschüttung von Bindungs- und Glückshormonen beim Stillen und bei Berührungen, entsteht eine enge Beziehung zwischen Mutter und Kind. Studien ergaben, dass sowohl Tier als auch Mensch häufig ein gestörtes Sozialverhalten aufweisen, wenn es im Säuglingsalter keine Bindung zu der Mutter aufbauen konnte.
Vielleicht ist es die Fähigkeit, alles in unserem Umfeld zerstören zu können, die uns stets das Gefühl von Erhabenheit gegenüber der Natur und anderen Lebewesen gibt. Der Klimawandel und das Aussterben der Arten machen uns das jeden Tag deutlich, dass wir dazu in der Lage sind. Unsere Intelligenz hilft uns dabei, Maschinen zu bauen, die unsere Ernteerträge vervielfachen und die unser Überleben in Krankenhäusern sichern. Die Digitalisierung beschleunigt alle Arbeitsprozesse bis ins Unermessliche. Doch wie intelligent kann der Mensch sein, wenn er bei all dem Fortschritt das Körperliche und somit das Tierische in ihm vergisst? Bisher hatte noch kein Tier, außer der Mensch, die Ambitionen, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören. Wenn wir anfangen würden, unsere Mitbewohner auf der Erde zu respektieren und unseren Sinn für Moral auch auf diese anzuwenden, würden sicherlich alle davon profitieren.
„Wir sollten uns das Leben nicht als Stufenleiter vorstellen, an deren Spitze das einzige Wesen von Wert steht – die menschliche Form des Bewusstseins und ihre Fähigkeit zur Sinnstiftung-, sondern als prächtiges Spektakel, das wir die ganze Zeit vor Augen haben.“
Melanie Challenger in „Wir Tiere“, S.277
Die preisgekrönte Lyrikerin und Sachbuchautorin hat für „Wir Tiere“ zehn Jahre lang recherchiert und diese Arbeit hat sich gelohnt. In jedem Kapitel zertrümmert sie Stück für Stück die Erhabenheit, von der wir uns alle nicht gänzlich freimachen können. Man muss es mögen, dass sie häufig abschweift, eine Vielzahl von Anekdoten aus dem Ärmel schüttelt, damit ihre Thesen aber nur weiter untermauert. Es ist faszinierend, aus wie vielen wissenschaftlichen Bereichen Challenger sich bedient. Ob Soziologie, Biologie, Psychologie, Archäologie oder Philosophie – die Autorin hat wirklich hervorragende interdisziplinäre Arbeit geleistet, die mich als Leserin nur staunen lässt.
Mit Demut lege ich das Buch zur Seite und weiß, dass mir viele Sätze noch lange in Erinnerung bleiben werden.
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