Wo auch immer ihr seid von Khuê Phạm: Perspektiven auf den Vietnamkrieg

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Khuê, die sich als Kim vorstellt, lebt in Berlin. Ihre vietnamesischen Wurzeln versucht sie so gut es geht zu ignorieren, denn sie ist durch und durch eine Deutsche. Eine unerwartete Nachricht und ein Anruf von ihrem Onkel aus Kalifornien zwingt sie dazu, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Sie begibt sich auf eine Reise durch die düstere Vergangenheit ihrer Familie, die im Vietnamkrieg beginnt. Dabei stellt Khuê fest, dass sich so viel mehr hinter ihrer schrulligen vietnamesischen Familie verbirgt als sie vermutet hat.

Drei Kontinente, eine Familie

Ein bequemes Leben als Journalistin führt Kim in der Hauptstadt Deutschlands. Kinderlos und unverheiratet entspricht sie dem Bild einer emanzipierten deutschen Frau, die ihrer Freiheit stets den Vorrang gewährt. Auch ihre Beziehung mit Dorian basiert auf diesem Konzept: Maximale Freiheit, auch wenn das bedeutet, dass dieser in Asien lebt, um sein Traum von einem eigenen Restaurant zu verwirklichen.

Doch ihre Eltern, die sie streng nach vietnamesischen Werten erzogen haben, können nicht nachvollziehen, warum ihre Tochter, die mit Auszeichnung ihr Abitur bestanden hat, lediglich Journalistin werden wollte. Auch der Wunsch nach Enkelkindern nagt an ihnen, was Kim stets zu spüren bekommt.

Eines Tages erreicht die Familie ein Anruf aus Kalifornien von Kims Onkel Son. Ihre Großmutter sei gestorben und zur Eröffnung des Testaments müsse ihr Vater Minh anwesend sein. Lustlos lässt sich Kim dazu überreden, ihre Eltern auf ihrer Reise zu begleiten. Sperrig und ungewohnt fühlen sich die vietnamesischen Worte auf ihrer Zunge an und sie schämt sich, dass es ihr schwerfällt, mit ihrer Familie zu kommunizieren. Auch das ständige Miteinander, was sie in Kalifornien erwartet, erdrückt sie zunächst und passt so gar nicht zu ihrem freiheitsliebenden Wesen. Sie muss feststellen, dass sie sich von ihren Wurzeln gänzlich entfremdet hat.

„Säße ich jetzt weißen Amerikanern gegenüber, würde ich von meiner Abneigung gegen die Kirche sprechen und von den hohen Scheidungsraten. Säße ich jetzt deutschen Freunden gegenüber, würde ich ihnen von meiner Beziehung erzählen, die so modern und freiheitlich ist, dass sie in alles münden könnte oder auch in nichts. Hier in diesem vietnamesischen Hummer-Restaurant aber schweige ich.“

Wo auch immer ihr seid, S.108

Perspektivenwechsel

Während Kim ihre Eindrücke des Familientreffens in Kalifornien schildert, fließen kapitelweise die Lebensgeschichten ihres Vaters und Onkels in die Geschichte ein. In den 60er Jahren genießt Minh, Kims Vater, das Privileg als ältester Sohn in Deutschland studieren zu dürfen. Er hinterlässt den Rest seiner 7-köpfigen Familie in einem vom Krieg und Kommunismus gezeichneten Vietnam. Sein Bruder Son schafft es mit vielen Rückschlägen in die USA zu flüchten und holt den Rest der Familie nach.

Die Zerfaserung des Familienstrangs, der in Vietnam tief verwurzelt ist, schafft nicht nur räumliche Distanz. Auch die politischen Meinungen zu den Geschehnissen in Vietnam werden von den unterschiedlichen Kulturen, in denen sich die einzelnen Familienmitglieder befinden, beeinflusst. Während in Deutschland die Kommunisten als die großen Befreier Vietnams wahrgenommen werden, leiden die Vietnamesen unter Umerziehungslagern und Armut vor Ort. Auch Kim muss am Ende feststellen, dass ihr Onkel sicherlich seine Gründe hat, warum er einen Kapitalisten und Hochstapler wie Donald Trump wählt.

Wieso verteidigten die Amerikaner das Land? Welche Aussicht gab es auf eine Wiedervereinigung zwischen Nord und Süd? Welche Aussichten auf Frieden? Es war seltsam, dass ihm all diese Fragen erst hier in Deutschland einfielen. Aber vielleicht, sagte er sich, erkannte man manche Dinge erst, wenn man sie aus der Ferne betrachtete.“

Wo auch immer ihr seid, S.120

Eine Frage der Perspektive

Eines der großen Stärken dieses Buches ist genau diese Denkweise. Während Kim zunächst ihre Familie peinlich ist, da die vietnamesische Kauzigkeit doch recht spießig in Deutschland wirkt, versteht sie im Laufe des Romans immer mehr, warum ihre Eltern so sind wie sie sind.   

Pham nahm das Niederschreiben ihrer Familiengeschichte als Anlass, die Geschehnisse in Vietnam im letzten Jahrhundert einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Sie selbst bemängelt, dass der Vietnamkrieg von den Medien zu einseitig thematisiert würde, da es fast ausschließlich Berichte von amerikanischen Kriegsreportern dazu gäbe. Insbesondere die Zeit nach dem Krieg war für viele Vietnamesen die einschneidendste, zu der es bisher aber wenig Literatur und Filme gibt. Weder die Kommunisten noch die Amerikaner waren die großen Befreier des Landes, sondern führten es in eine von Armut, Hunger und Inflation geprägte Krise.

Lesenswert?

Khuê Phạm schreibt in ihrem ersten Roman Wo auch immer ihr seid nicht nur über ihr eigenes Leben als Kind zweier Vietnamesen in Deutschland, sondern auch die Geschichte ihrer Familie. Sie packt die großen Themen an: Idenität, Fremdsein, Ankommen, culture clash und den Vietnamkrieg. Mit einer Leichtigkeit verwebt sie diese Bereiche und schafft es, die Verbindungen mit Spannung zu füllen. Man möchte wissen, wie es mit Son, Minh und ihrem eigenen Leben weitergeht.

Nicht durch eine besondere literarische Ästhetik brilliert dieser Roman, sondern durch die Inhalte. In einer globalisierten Welt, in der wir alle leben, ist es so wichtig, vom Leben in einer fremden Kultur zu berichten, einen multiperspektivischen Blick auf politische Ereignisse zu werfen, ja, über den Tellerrand, der herkömmlichen Medien zu schauen. Ich habe viel aus der Lebensgeschichte von Phạm gelernt und habe mich nun endlich ausführlicher mit Vietnam beschäftigt. Das hätte mir wohl keine andere so schmackhaft machen können, wie Khuê Phạm es getan hat.

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Wo auch immer ihr seid von Khuê Phạm
297 Seiten
22 Euro

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