Nomadland Film

Nomadland – Von der Ruhe in der Rastlosigkeit

Was tut man, wenn der eigene Wohnort so bedeutungslos geworden ist, dass ihm sogar die Postleitzahl entzogen wird? Die vom wirtschaftlichen Zusammenbruch gezeichnete Stadt Empire in Nevada war einst das Zuhause von Fern und ihrem Mann. Nachdem nicht nur Empire zu Staub geworden ist, sondern auch ihr Ehemann verstarb, packt Fern ihre wichtigsten Habseligkeiten in den Van und fährt los. In Chloé Zhaos oscarprämiertem Meisterwerk wagt nicht nur Fern etwas, sondern auch die Regisseurin: Sie schafft eine Kreuzung aus Spielfilm und Dokumentation, aus professionellen Schauspielern und Menschen, die sich selbst darstellen. Ist ihr dieses Experiment gelungen?

Entscheidung für die Freiheit

Weder Menschen noch Jobs sind noch anzutreffen in der ehemaligen Bergbaustadt Empire in Nevada. Fern ist nach dem Tod ihres Mannes wieder ganz auf sich selbst gestellt und beschließt, von nun an ein Leben auf der Straße zu führen. Ihr Van ist ihr neues Zuhause auf Rädern. Gelegenheitsjobs halten sie über Wasser und dabei ist sie wenig anspruchsvoll. Ob in der Packstation bei Amazon oder Toiletten putzen auf dem Campingplatz – allen Lebenssituationen kann sie etwas Positives abgewinnen. Die Entscheidung auf der Straße zu leben, hat sie keineswegs aus der Not heraus getroffen. Fern werden zahlreiche Möglichkeiten angeboten, ein zivilisiertes Leben mit einem festen Wohnsitz zu leben. Nicht nur ihre Schwester bietet ihr mehrmals an, dass sie zu ihr ziehen kann, sondern auch eine Familie eines Freundes, den sie durch ihr Leben im Van kennengelernt hat. Fern ist unkompliziert, eine gute Zuhörerin und eine intelligente Frau, der Freunde und Familie wichtig sind. Dennoch tauscht sie die Geborgenheit eines Familienlebens nicht gegen ihre Freiheit ein.

Rubber Tramp Rendezvous

 Einmal im Jahr findet mitten in der Wüste Arizonas das Rubber Tramp Rendezvous statt, das Bob Wells ins Leben gerufen hat. Dort versammeln sich jedes Jahr im Januar für zwei Wochen die Nomaden Amerikas und lernen, abseits der Zivilisation zu überleben. Workshops zum Kochen mit Solarenergie oder Erste-Hilfe-Kurse sollen den Freiheitsliebenden dabei helfen, ohne direkten Anschluss zur Zivilisation über die Runden zu kommen. Auch Fern nimmt daran teil und es wird deutlich, wie viel Halt sich die Van-Nomaden untereinander geben, denn nicht nur das Überleben wird trainiert, sondern auch ein solidarisches Miteinander.

Keine Konflikte

Bekanntschaften, die während des Camps entstanden sind, treffen sich während des Films unerwartet oder geplant wieder. Der ganze Film ist frei von Konflikten oder Spannung, was dem ganzen Film den dokumentarischen Charakter verleiht. Die Klavierklänge von Ludovico Einaudi unterstreichen den Frieden, den Fern, gespielt von Frances McDormand, ausstrahlt. Vielmehr zeichnet sich das Zwischenmenschliche in dem Film durch Vorbehaltlosigkeit, Ehrlichkeit und Liebe aus.

Nomadland Film Szene

Fiktion trifft auf Realität

Wie man vielleicht an der inhaltlichen Zusammenfassung erkennen kann, besticht Nomadland nicht durch Spannung, verästelte Konflikte oder Herzschmerz. Nein, er versucht vielmehr eine Stimmung einzufangen und darzustellen, die das Leben auf den Straßen der USA begleitet. Die Autorin Jessica Bruder veröffentlichte 2017 das Sachbuch Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert, welches die Grundlage für Chloé Zhaos Filmexperiment bildete. Die Personen, die Bruder zu Recherchezwecken interviewte, spielten in dem Film Nomadland mit. So trifft die hochkarätige Schauspielerin Frances McDormand auf echte Nomaden und spielt mit ihnen Seite an Seite.
Auch McDormand zog für fünf Monate in einem Van durch die Staaten, um das Nomadenleben verstehen und nachempfinden zu können. Man merkt ihr kaum an, dass sie die Nomadin Fern nur spielt, da ihre Authentizität sich nahtlos in das Gesamtbild des Films einfügt. Hilfsbereit, realistisch, aber auch optimistisch geht Fern auf ihre Mitmenschen zu und lebt mit Überzeugung ihr Leben auf der Straße.

Kapitalismuskritik?

Man könnte meinen, dass Zhao eine handfeste Kapitalismuskritik in ihrem Film darstellen wollte. Schließlich sind viele, die als Nomaden durch die Staaten ziehen, dazu gezwungen, ihr Leben im Van zu verbringen. Abgehängt durch immer unerschwinglichere Immobilien, der Digitalisierung und niedrigen Löhnen können sich viele in den USA noch nicht einmal eine Krankenversicherung leisten. Swankie, eine Freundin von Fern, die neben ihrem Van parkt, leidet an Krebs und gibt sich ihrem Schicksal fernab medizinischer Versorgung hin. Doch sie verkörpert wenig Verbitterung und will lediglich ein letztes Mal die Vögel in Alaska sehen.
Die Stimmung des Films spiegelt keine pauschalisierende Kapitalismuskritik wider. Vielmehr ist es eine Ode an die Freiheit. Zwar sind viele durch persönliche Schicksale dazu gezwungen, ein Nomadenleben zu führen, aber es scheint so, als ob die damit gewonnene Freiheit auch etwas einzigartiges Schönes birgt. Vielleicht sind es die ehrlichen Freundschaften, die Fern auf ihren Wegen pflegt oder die Flexibilität und Abwechslung, die sie durch diese Lebensform gewinnt – die Wildnis übt einen gewissen Reiz auf den Zuschauer aus und stigmatisiert keineswegs den Kapitalismus als Weg in den gesellschaftlichen Untergang.

Warum sehenswert?

Wer eine starke Entwicklung von Charakteren und große Spannungsbögen erwartet, wird mit Nomadland nicht glücklich. Es ist vielmehr ein Porträt eines außergewöhnlichen Lebensstils, der durch seine Reduziertheit und der Nähe zur Natur einen Fluchtort für unseren konsumüberladenen Alltag bietet. Zhao ist es in diesem Film gelungen, eine Nischengruppierung, die Nomaden in den USA, sichtbar zu machen. Sie fädelt die fiktive Geschichte von Fern in das echte Nomadenleben ein und schafft eine wertfreie Darstellung dieser Art zu leben.
Nicht nur die Personen erscheinen authentisch, mit Falten, großen Poren und ungeschminkt – schlichtweg so, wie wir Menschen ohne Filter nun einmal aussehen. Auch die Auswahl der Filmmusik passt sich perfekt in die puristische Kulisse des Films an. Die Bilder der amerikanischen Weiten lassen Abenteuerlust aufkommen und den eigenen kleinen Funken Nomadentum im Herzen entflammen. Aber auch die Härte dieses Lebensstils wird in vielen Szenen deutlich. Weihnachten und Silvester in der Kälte allein im Van zu feiern, gehört leider auch dazu und ist der Preis, den man für ein rastloses Leben in Freiheit bezahlen muss.
Nomadland hinterlässt einen nachdenklich. Zhao übernimmt nicht die Bewertung des Nomadenlebens, sondern überlässt das ihrem Publikum. So ist doch die Liebe zur Freiheit eines der wichtigsten Bestandteile der amerikanischen Mentalität.

1 Kommentar zu „Nomadland – Von der Ruhe in der Rastlosigkeit“

  1. „See You on the Road“
    Toller ruhiger Film mit wunderbar poetischen Momenten und einer großartigen Frances McDormand, mit der aber die Laienschauspieler in ihrer Authentizität gleichziehen. Es ist beruhigend zu erleben, wie Hollywood neben unendlich viel Schrott auch solche stillen Meisterwerke in die Kinos bringt.

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