Wie wir lieben von Friedemann Karig: Von Sprüngen über den monogamen Beckenrand

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Foto by Caroline Voelker on Unsplash

Um es direkt vorweg zu sagen: Der Untertitel des Buches lautet »Vom Ende der Monogamie« und darf als eine bewusste Überspitzung des Autors verstanden werden, die selbstredend hohe Wellen schlagen kann. Dass diese anfängliche Information hier wiederum kein Spoiler ist, liegt einerseits an der großen Breiten- und Tiefenstruktur der Lektüre, andererseits auch an den vielen philosophischen Berührungspunkten bzgl. der Frage nach der Lebensführung generell: Wie wollen wir l(i)eben? Nicht zuletzt besteht ein Interesse an diesem Buch; wie sonst wäre die bisherige 5. Auflage denkbar – doch der Reihe nach:  

Das Liebeskonzept als monogame, offene oder polygame Aporie?

Die Aporie als unlösbarer Widerspruch scheint hier zunächst sehr treffend zu sein. Überschreitet das Thema der offenen Beziehung doch eine der vielleicht selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten unseres Selbstverständnisses des exklusiven Beziehungskonzepts. Karig springt nicht nur einfach über den Beckenrand. Er taucht tief in die historischen Dimensionen bis hin zur Horde hinab, zieht seine Bahnen durch nicht-exklusive kulturelle Gewässer wie bspw. die der Mosuo und unternimmt im Ozean der Gefühls- und Bindungswelten gemeinsame Tauchgänge mit Soziologen wie Eva Illouz oder Niklas Luhmann, Psychologen wie Dieter Duhm und Philosophen wie Axel Honneth, Alain de Botton oder Bas Kast, um nur einige zu nennen. Von seinen Tauchgängen bringt er stets provokant-herausfordernde  Fragen mit, die unser Selbstverständnis hinterfragend irritieren können:

„Die monogame Ehe ist ein christlicher Exportschlager. […] Tatsächlich stellen aber auch heute strenge Monogamie praktizierende Gesellschaften eine Minderheit unter den menschlichen Kulturen dar. Der Anthropologe George Peter Murdoch zählt in seiner Studie »Social Structure«“ 238 verschiedene menschliche Gesellschaften auf der Erde, von denen nur 43 die Monogamie propagierten. Man nimmt an, dass vor dem Kontakt mit dem Westen noch deutlich mehr der Gesellschaften nicht-monogam
lebten. Und wieso sollten wir, die Krone der Schöpfung, eigentlich als einzige pseudo-monogam sein? Alle, wirklich alle Lebewesen auf dieser Welt scheinen polygam
veranlagt zu sein.“

Wie wir lieben – Vom Ende der Monogamie, S.204-205

Der hohe Wellengang liegt vermutlich genau darin, dass das Thema eine grundlegende Ausgangslage unseres zeitgeistigen Liebes-Narrativs unterströmt, weil es nicht nur eine zeitlose Grundkonstitution des menschlichen Bindungsbedürfnisses in Betracht zieht, sondern auch den historischen Wandel in unseren westeuropäischen Beziehungskonzepten an die Oberfläche spült.

Im philosophischen Zusammenhang ließe sich das aus dem Blickwinkel des negativen und positiven Freiheitsbegriffes besehen: Im negativ-freiheitlichen Sinne sind wir befreit von der Last der erforderlichen Rahmengebung unserer Kultur. Wir werden in einem bestimmten vorhandenen Konzept sozialisiert und folglich daran gewöhnt. Positive Freiheit ist dann das Synonym für Selbstbestimmung innerhalb unserer Kultur. Doch was ist, wenn ungewohnte positive Freiheit droht über den Beckenrand der gewohnten negativen Freiheit zu schwappen?

Tauchgänge mit Ozeanschwimmern

Die Lektüre ist in sechs Kapitel unterteilt: Sex in letzter Zeit, Sex damals, Eifersucht, Liebe, Treue, Freiheit und von einem Pro- und Epilog eingeklammert. Man gewinnt Einblicke in die Welten von Paul und Jelena, Livia und Thomas, Jakob und Francesca, Jasper und Marie, Viktor und Veronique, Lousie sowie Mara und Patricia. Allesamt sind auf unterschiedlichen Wegen darin bestrebt, individuell austarierte „Couple-Rules“ zu finden. Zugegeben: Bis auf das letzte Paar ist es eine höchst heterosexuelle Angelegenheit, aber vielleicht macht das auch genau den Wellengang aus, weil vielleicht im hetero-normativen Schwimmbecken der Rand besonders hoch zu sein scheint und die vorgezogenen Bahnen besonders geradlinig sind. Die Komplexität einer offenen Beziehungsfreiheit zeigt sich im Laufe der Lektüre u.a. daran, dass die jeweiligen Paare mit unterschiedlichen Ausgangslagen und individuellen Präferenzen sowie Ablehnungen zu kämpfen haben. Jedoch vereinigen sich alle in folgender Überzeugung:    

„Wir merken: Die romantische Liebe mit lebenslanger Treue, gemeinsamer Familie und emotionaler wie körperlicher Verbundenheit – ist eine Erfindung wie das Auto. Für uns normal. Nicht mehr wegzudenken. Vielleicht die Welt zum besseren verändernd. Aber eben weder Naturzustand noch -gesetz […]“.

Wie wir lieben –  Vom Ende der Monogamie, S. 152

Ferner kommt auch eine weitere interessante Frage in diesem Zusammenhang auf: Weshalb wir Liebe überhaupt lebenslang denken müssen? Es sind, wie bereits oben erwähnt, Fragen solcher Art, die zunächst unscheinbar daherkommen, jedoch unsere unhinterfragte Ausgangslage zum Hinterfragen anregen. Man muss dabei nicht unbedingt auf jede Frage eine Antwort finden. Die bewusste Auseinandersetzung mit Fragen solcher Art können auch zu einem besseren eigenen Verständnis führen. Nicht zuletzt sind ja Fragen das eigentliche Kerngeschäft der Philosophie. Was Karig am Ende gelingt ist eine

weitverzweigte Gegenüberstellungen der Beziehungskonzepte und deren Verzweigungen unterhalb der Wasseroberfläche, sodass man einer differenzierten Ozeanographie der Liebe begegnet.  

„Eine Hochzeit ist eben nicht das Ende der Freiheit, sondern ein ultimativer Triumph. Niemals zuvor in der Geschichte unserer komischen Spezies konnten zwei Menschen so frei zueinander finden wie heute, zum Glück auch endlich ungeachtet ihres Geschlechts. […] Die Heirat aus freien Stücken, aus reiner Liebe – das ist die wahre Krone der Schöpfung.“

Wie wir lieben –  Vom Ende der Monogamie, S. 229

Lesenswert?

Das Buch ist in vielerlei Hinsicht durchaus lesenswert. Man erhält nicht nur einen historisch fundierten Grundriss über die Entwicklung unserer kulturellen Gesellschaftsordnungen und in welchem Maße dabei die Sexualität und Macht jeweils Rollen spielen, sondern es kommen in diesem weitverzweigten Geflecht viele kleinere und größere Themen über Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Partnerschaft und deren Dynamiken, Liebe und die weibliche wie männliche Sexualität zur Sprache. Karig kombiniert gekonnt wissenschaftliche Beobachtungen mit lebenspraktischen Erfahrungen. Die gesamte Themenkomplexität wird gut verständlich der Leserschaft dargeboten.

Einen weiteren Pluspunkt erhält das Buch für das komprimierte Inhaltsverzeichnis. Die hohe Frequenz dortiger angegebener Werke verstärkt den Eindruck der fundierten Recherche seitens Karig, wovon die Qualität der Lektüre sehr profitiert.

Ob man nun einfach neugierig einen Blick riskieren möchte oder bereits ernsthaft eine Öffnung in Erwägung zieht – so oder so: Nach der Lektüre hat man einen erweiterten Horizont über den eigenen Beckenrand.

In diesem Sinne: Hang loose!  

Weitere Informationen über Friedemann Karig findest du hier:

http://www.friedemannkarig.de/buch/

https://www.instagram.com/friedemannkarig/

re:publica 2017 – Friedemann Karig: Wie wir lieben. Die sexuelle Revolution 2.0:

Ein Ansatzpunkt für weitere Informationen über alternative Konzepte findest du hier  bei Aino Simon:

https://www.couplecare.de/

Wie wir lieben –
Vom Ende der Monogamie
von
Friedemann Karig
303 Seiten
12,00 € Taschenbuch
9,99 € eBook epub

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