Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke – Von dem Ursprung der Großstadtliteratur

maria-teneva-O_W8xIMtUPQ-unsplash

Man verbindet den Namen Rilke in der Regel ausschließlich mit Gedichten. Wenigen ist der einzige prosaische Text Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von dem bekannten Dichter bekannt.  Erst spät fand er Beachtung unter Literaturwissenschaftlern, die ihn als Wegbereiter de modernen Großstadtliteratur anerkannten. Was macht diesen Roman, den Rilke selbst nie als Roman bezeichnete, so besonders?

Ein junger adeliger Dichter in Paris

Zu früh starben die Eltern des 28-jährigen Malte Laurids Brigge und somit auch seine wohlhabende adelige Herkunft. In Paris will sich der junge Däne als Dichter probieren und wird überwältigt von den Eindrücken der Großstadt, die gänzlich im Kontrast zu seiner idyllischen Kindheit auf dem Land stehen.

Ohne jegliche Struktur folgen Berichte von Maltes Erfahrungen, die er in Paris sammelt, Kindheitserinnerungen und Überlegungen zu historischen Ereignissen. Eine Handlung gibt es kaum. Das Buch liest sich vielmehr wie willkürlich aufgeschriebene Impressionen aus dem Alltag, die immer wieder Erinnerungen an die Vergangenheit hervorrufen. Auch die großen Themen wie Liebe, Tod und der Sinn des Lebens finden Raum in den Gedanken des Malte Laurids Brigge.

Stream of consciousness

Rilke bedient sich in seinem prosaischen Werk der Erzähltechnik stream of consciousness, oder auch einem Bewusstseinsstrom. Diese Technik etablierte sich unter den Schriftstellern der Moderne, die einer stets komplexer werdenden Welt gegenüberstanden. Die klassische chronologische Erzählung wurde der Vielzahl an Eindrücken nicht mehr gerecht. So entstanden Texte, die unsortiert und auf die spontane Wahrnehmung des Protagonisten konzentriert waren. Mit Malte Laurids Brigge schuf Rilke als einer der ersten Autoren einen Protagonisten, der seiner Umwelt nicht gewachsen zu sein scheint. Wild und unsortiert schnappt er hier und dort etwas im Pariser Stadtleben auf und nutzt diese Eindrücke zum Anlass, über verschiedenste Themen nachzudenken.

Diese neue Erzähltechnik vereint Rilke mit einer Art Tagebuch als Textform. Das scheint sehr passend, denn wo sonst würde man seine Gedanken so ausufern lassen, wenn nicht in einem Tagebuch? Die Außenwelt spielt kaum eine Rolle in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, sondern vielmehr das Innenleben. Äußere Reize dienen lediglich als Trigger für das Nachdenken über metaphysische Fragen oder die eigene Kindheit.

Besonderheit der Großstadtliteratur

Schon Georg Simmel beschrieb in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben die besondere Psyche, die durch das Leben in einer Großstadt entsteht. Er sprach von einer Übersteigerung des Nervenlebens, das durch die laute und eindrucksvolle Großstadt gänzlich überreizt wird. Eine Überreizung der Nerven durch die zahlreichen Eindrücke, die auf den Großstädter einprasseln, führt dazu, dass sich das Nervenkostüm durch eine Blasiertheit und Reserviertheit schützt.

Umso länger man in einem Ballungsraum lebt, desto weniger Bedeutung misst man den Unterschieden zwischen den Sinneseindrücken bei. Der Mensch ist dazu in der Lage, sich in einen gewissen Schutzmantel zu hüllen, der die Reize filtert. Das nennt Simmel Blasiertheit. Ein weiteres Merkmal eines Großstädters sind die reduzierten sozialen Kontakte. Man könnte meinen, dass in einem Bereich, in dem so viele Menschen sehr dicht aufeinander leben, die Kontakte zwischen ihnen zunehmen. Dennoch ist der Individualismus in keinem anderen Ort so weit verbreitet wie in einer Stadt. In einem großen Haus, in dem mehrere Parteien in verschiedenen Wohnungen leben, kennt sich meist kaum einer. Auf einem Dorf hingegen wäre diese Distanz nicht möglich, obwohl der Einzelne räumlich viel mehr Platz für sich hat.

Maltes Erfahrungen

Malte als Adelskind, der auf dem Land groß geworden ist, besitzt diese Blasiertheit noch nicht. Vollkommen überfordert von der Armut, dem Dreck, den Krankheiten und den vielen Menschen flüchtet er sich in die Bibliothek oder in seine Erinnerungen – die einzigen Orte, die in ihrer Abgeschlossenheit erzählbar sind.

Insbesondere den Tod scheint er an jeder Straßenecke zu sehen, was ihn dazu anregt, darüber nachzudenken. Ebenso die Liebe, Einsamkeit oder die Frage nach Identität beschäftigen Malte. Seine Gedanken dazu stellt Rilke stilistisch vielfältig dar. Manchmal in Form von Erinnerungen, manchmal in fast lyrischen Passagen verdichtet oder ausufernd detailreich. Es ist keine blumige Sprache, in der Maltes Gedanken Ausdruck finden, sondern sie ist ebenso direkt, unverschnörkelt und gewaltig wie das Umfeld, in der diese Sätze entstanden sind.

Lesenswert?

Rilkes Debütroman will, wie er bereits selbst sagte, kein richtiger Roman sein. Wer sich darunter verhofft, eine spannende Handlung zu lesen, der sollte sich nicht Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge durchlesen.  Es sollte einen vielmehr das Interesse an diesem avantgardistischen Erzählstil der Moderne dazu veranlassen, sich mit diesem Buch zu beschäftigen.

Auch wenn es keineswegs leichte Kost ist, man an einigen Stellen schier verzweifelt, da man bei den Gedankenexkursionen schnell den Faden verliert, so ist es doch genau das, was Rilke damit ausdrücken wollte. Gedankenströme, die noch dazu in einer Großstadt gedacht werden, sind nun mal keine fein dekorierten und wohl sortierten Geschichten. Die Literatur versucht die Wirklichkeit oder dessen Möglichkeiten darzustellen. Die Wirklichkeit, mit der Rilke seinen Protagonisten konfrontiert, ist genau das, was der Leser dabei empfindet: Überforderung, Verzweiflung aufgrund der Ungreifbarkeit, der Unerzählbarkeit, eine Kapitulation vor der Komplexität, die letztendlich zu einem Rückzug in das Innere führt. Rilke schafft das Bild einer Großstadt in Textform. Diese ist nicht erzählbar, sondern nur fragmentarisch von einem Individuum wahrnehmbar, fernab jeglicher Vollständigkeit.

Wenn dich Großstadtliteratur interessiert: Javier Marías – Ein literarisches Juwel aus Madrid



Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke
192 Seiten
3,95 Euro

Schreibe einen Kommentar