Die bessere Geschichte von Anselm Neft: Wo fängt das Böse an?

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Anselm Nefts Roman „Die bessere Geschichte“ von 2019 ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. 

Verantwortung von Pädagoginnen und Pädagogen

Neft führt uns in die Welt eines Landerziehungsheimes, und sofort werden die Erinnerungen an die Odenwaldschule wach. Als ehemaliger Lehrer und Erzieher an einem Landerziehungsheim weiß ich um die Vorzüge und Verdienste dieser Reformschulen. Den einzelnen Menschen zu sehen, zu beraten und zu bilden ist eine pädagogische Aufgabe von hohem Wert und hoher Verantwortung. In diesem pädagogischen Prozess kann eine Nähe entstehen, die die Schülerinnen und Schüler wachsen und zu stabilen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten werden lassen kann. Diese Nähe verlangt den Pädagogen aber viel Verantwortung ab, denn die Nähe birgt immer auch die Gefahr, persönliche Grenzen gewollt oder ungewollt zu überschreiten und für Verletzungen der jungen Menschen zu sorgen.

Der Reiz des Besonderen

Anselm Neft beschreibt die Atmosphäre in einem solchen Internat, den Reiz des Besonderen, die Verführbarkeit junger Menschen und die Verführungskünste übergriffiger Pädagogen realistisch und eindringlich. Dabei ist der Roman kein Landerziehungsheim-Bashing, denn es sind einzelne Pädagogen, die hier Grenzen überschreiten. Zum Glück verteilt sich die Schuld auf das Lehrerehepaar Wieland; so ist der Roman ein Buch über Machtmissbrauch im allgemeinen und nicht nur über die Verfehlungen eines „alten weißen Mannes“ geworden.

Lesbar?

Die Geschichte von Tilmann, gerade auch nach der Internatszeit als Erwachsener macht uns sehr bewusst, wie lange und wie komplex Missbrauchserfahrungen wirken können. Tilmann entdeckt in sich selbst Sehnsüchte, die auch seinen ehemaligen Lehrer und dessen Frau trieben. Das muss man aushalten können.

Der Roman ist auch politisch relevant: wie viele politische oder religiöse Extremisten, ist das Lehrerehepaar Wieland ja davon überzeugt, das Gute zu tun. Nur in diesem Bewusstsein können sie das wirklich Böse tun.

Gesellschaften, denen mehr und mehr moralische Grundlagen und verbindliche ethische Normen fehlen, wird es zunehmend schwerer fallen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

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