Die Bücher des bekannten Psychotherapeuten Irvin David Yalom handeln häufig vom Umgang mit der Angst vor dem Tod, der Sinnlosigkeit und Einsamkeit. In seinen Therapien spezialisierte er sich unter anderem auf existenzielle Psychotherapie, die den Patienten dabei helfen soll, nicht am Leben zu verzweifeln, wenn geliebte Menschen sterben. Doch was geht in einem Psychotherapeuten vor, wenn er selbst mit den Problemen seiner Patienten konfrontiert wird und das Sterben und den Tod seiner großen Liebe ertragen muss? In „Unzertrennlich“ beschreibt das Ehepaar Yalom seinen persönlichen Umgang mit Abschiednehmen und Trauer und der Liebe, die diesen Prozess stets begleitet und potenziert.
Die Krankheit Marilyns und ein gemeinsames Projekt
Der Auslöser, ein gemeinsames Buch zu schreiben, war Marilyns Krebsdiagnose. Ein Multiples Myelom mit 87 Jahren machte wenig Hoffnung auf eine baldige Heilung. Beide wussten, dass Marilyn sehr wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit blieb. Das Schreiben eines gemeinsamen Buches war nicht Irvs Idee, sondern die seiner kranken Frau, die wusste, dass der Prozess des Schreibens beide am Leben halten wird. Auch über ihren Tod hinaus. Beide haben in ihrem Leben viel publiziert, aber noch nie ein gemeinsames Projekt verwirklicht. Sie begannen und schrieben die ersten Kapitel des Buches „Unzertrennlich“ im Wechsel.
Der Zerfall
In diesen ersten Kapiteln beschreiben beide Ehepartner den langsamen Zermürbungsprozess einer Chemotherapie. Nicht nur einmal fragen sich beide, ob es das Leben noch lebenswert macht, wenn man seine verbleibende Zeit nur mit solch wesensverändernden Therapien verlängern kann. Marilyn ist abgeschlagen, leidet an Appetitlosigkeit und Übelkeit und verliert all ihre Lebensfreude, die für sie eigentlich so typisch war. Beide gehen unterschiedlich mit dieser Phase um: Für Marilyn scheint das Leben gelebt worden zu sein, sie erhofft sich einen baldigen Tod. Irv hingegen kann sich mit dem Gedanken, ohne seine Marilyn weiterleben zu müssen, nicht anfreunden. Er klammert sich an ihr Leben und will nichts unversucht lassen.
Der körperliche Zerfall ist nicht das Einzige, was in dieser Zeit belastend ist. Wenn ein Mensch stirbt, löst nicht nur er sich auf, sondern auch seine Besitztümer und sein Raum, den er im Leben seiner Familie und Freunde eingenommen hat. Die Yaloms waren ein lesebegeistertes Ehepaar und Bücher bildeten nicht nur in ihren Gesprächen häufig den Mittelpunkt. Auch ihr großes Haus war mit tausenden von Büchern gefüllt, die für sie eine ganz besondere Bedeutung hatten. Kurz vor ihrem Tod spendete die frankophile Marilyn viele ihrer Schätze an Bibliotheken von Universitäten. Die großen Lücken, die so in den Bücherregalen entstanden, waren nur ein Vorgeschmack des Schmerzes, der auf Irvin noch zukommen wird.
Der langsam einkehrende Tod seiner Frau macht Irv seine eigene Vergänglichkeit immer bewusster. So gerne verdrängt man die Tatsache, dass das Leben endlich ist, doch wenn geliebte Menschen sterben, wird man mit aller Härte daran erinnert. Zu überleben ist kein Privileg, denn letztendlich müssen wir alle irgendwann gehen.
Niemand sonst außer ihr trinkt Tee in unserem Haus. In jeder Schachtel sind zwanzig Beutel. Ich fürchte, sie wird nur noch ein paar Tage am Leben sein, dennoch kaufe ich zwei Schachteln – vierzig Teebeutel ein magischer Appell, sie noch etwas länger zu behalten.
Unzertrennlich von I.D und M. Yalom, S.191
Ein Leben endet
Nach zwanzig gemeinsamen Kapiteln wird das Schreiben wieder für Irv eine einsame Tätigkeit. Marilyn bricht die Behandlungen ab und wird nur noch palliativ behandelt. Nach einem letzten Energieschub stirbt sie in Anwesenheit ihrer Kinder und ihres Mannes. Sein Leben lang hat der Psychotherapeut mit Patienten, die über einen Verlust nicht hinwegkommen, gearbeitet, doch nun steht er auf einmal selbst vor der Aufgabe, die Lücke akzeptieren zu lernen.
Ich betrachte meine Patientin Irene nun mit anderen Augen. Ich erinnere mich an meine Begegnung mit ihr, als wäre es gestern, besonders an ihre Kommentare über mein warmes, gemütliches, glückliches Leben, das mich davon abhalte, das wahre Ausmaß ihrer vielen Verluste zu begreifen. Nun nehme ich ihre Worte ernster.
Unzertrennlich von I.D und M. Yalom, S.289
Trost sucht er in der Philosophie, seinen eigenen Büchern und der Psychologie. Er erinnert sich an Patienten, die mit genau dieser Leere, die er nun am eigenen Leibe zu spüren bekommt, konfrontiert wurden. Seine damals gegebenen Ratschläge kommen ihm auf einmal lächerlich vor, da er nun das erste Mal selbst merkt, dass diese viel leichter gesagt als umzusetzen sind. Wenn man sein Leben lang nie allein war, mit seiner Frau seit der Jugend zusammen war, dann erscheint einen zunächst alles sinnlos. Egal, wie viele gute Ratschläge einen andere oder die Literatur geben. Dabei gibt es rational betrachtet gar keinen Grund, Angst vor dem Tod zu haben.
Aber es geht hier nicht um Einsamkeit. Es geht hier darum, dass ich lernen muss, dass etwas Wert haben und von Interesse sein kann, selbst wenn ich der Einzige bin, der es erlebt, selbst wenn ich es nicht mit Marilyn teilen kann.
Unzertrennlich von I.D. und M. Yalom, S.223
Epikur: Furcht vor dem Tod ist unbegründet
Der Philosoph Epikur lebte bereits 341 bis 270 v.Chr. Epikur beschäftigte sich mit Lebensphilosophie – wie muss ich leben, damit mein Leben lebenswert wird? Jeder Mensch sollte Seelenruhe und Gelassenheit anstreben, damit er glücklich werden kann. Doch wie erreicht man diese Geisteszustände? Vor allem nicht mit der Angst vor dem Tod. Epikur sah die Todes- und Gottesfurcht als größte Hindernisse, um inneren Seelenfrieden zu erreichen. Entscheidungen und Lebenswege beeinflussen ausschließlich wir, daher ist die Angst vor Göttern unberechtigt. Die Angst verursacht nur Unglück und neben der Gottesfurcht ist unsere größte Angst, die vor dem Tod. Nur wenn wir diese überwinden können, werden wir glücklich.
Epikur sieht diese Angst als gänzlich unbegründet, da der Tod das Ende unseres Bewusstseins und unserer Gefühle ist. Daher kann der Tod weder körperlich noch emotional erfahrbar für uns sein. Und warum sollte man sich vor etwas fürchten, was jenseits unserer Wahrnehmung liegt?
Angst vor dem Vergessenwerden
Es klingt alles so logisch. Man wird am Ende sterben, es ist der Kreislauf, dem wir alle nicht entkommen können. Die Angst vor dem Tod ist etwas gänzlich Absurdes. Dennoch ist sie da, sucht uns ganz besonders heim, wenn eine geliebte Person mit der Endlichkeit des eigenen Seins überrumpelt wird und uns auf einmal schmerzlich bewusstwird, dass alles, was wir auf dieser Welt an Besitztümern anhäufen, an Freundschaften knüpfen oder uns an Wissen aneignen, mit uns gehen wird. Die Erinnerung an einen wird zunächst sehr präsent sein, aber von Tag zu Tag, Monat zu Monat und Jahr zu Jahr immer blasser werden.
Ist es nicht das, was einen Angst macht? Nicht der Prozess des Sterbens, sondern das Sichauflösen? Kaum einer kann wohl leugnen, dass man die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz infrage stellt, wenn man darüber nachdenkt, dass man schlichtweg ausgelöscht wird, unbedeutsam sein wird. So ergeht es auch Irvin Yalom, der auf einmal ein sexuelles Verlangen nach anderen Frauen an sich wahrnimmt und hin und wieder sich dabei erwischt, nicht an den Tod seiner Frau zu denken. Für die Hinterbliebenen ist das ein heilender Prozess, aber gleichzeitig auch ein seltsames Gefühl, dem Andenken einer geliebten Person nicht mehr gerecht werden zu können.
Lesenswert?
Dem Ehepaar Yalom ist es in „Unzertrennlich“ gelungen, dem Tod offen in die Augen zu schauen. Ein Thema, was insbesondere in diesem persönlichen Kontext, schwer in Worte zu fassen ist, wurde hier sowohl biologisch, psychologisch als auch irrational aufgegriffen. Insbesondere diese Mischung macht die Lektüre so interessant: Zwei Wissenschaftler beginnen teilweise objektiv und pathologisch über den Tod zu reflektieren. Von Kapitel zu Kapitel werden beide Wissenschaftler mehr zu emotionalen Menschen, die merken, dass sich metaphysische Themen wie Tod und Lebenssinn nicht immer rational erklären lassen. Der Tod geht auch bei klugen Denkern unter die Haut und viele Passagen, in denen Irv sich eingesteht, dass er sich das Leid seiner Patienten leichter vorgestellt hätte, zeugen von Ehrlichkeit und Menschlichkeit.
Was dem Buch einen kleinen Minuspunkt verschafft, sind die sehr selbstverliebten Passagen des Psychotherapeuten. Es wird doch etwas zu häufig betont, welch eine heilende Wirkung seine eigenen Romane auf ihn haben und wie selten er in seinen Therapien falsch lag. Aber irgendwie ist das ja auch auf eine gewisse Weise ehrlich…
Wenn dich das Thema interessiert hat, könnte dir auch folgender Artikel gefallen: https://www.denkbar.net/die-langen-abende-von-elizabeth-strout-von-der-einsamkeit-der-sterbenden/
Ein interessantes Interview mit Irvin D. Yalom in der Sternstunde Philosophie findet man unter folgendem Link: https://www.youtube.com/watch?v=Gx9J8j2Xz0g&ab_channel=SRFKultur
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