Die langen Abende von Elizabeth Strout – Von der Einsamkeit der Sterbenden

Den Lebensabend, der letzte Abschnitt des eigenen Lebens, assoziieren die meisten mit Ruhe, Zufriedenheit und einer gewissen Akzeptanz von den Dingen, die einen das Leben so beschert hat. Einen wohlverdienten Ruhestand nach mühseligen Arbeits- und Erziehungsjahren auf einer Veranda im Schaukelstuhl – etwa so wird es einem häufig suggeriert. Elizabeth Strout bricht in ihrem Roman Die langen Abende mit dem Klischee des zufriedenen Alterns. Probleme und Konflikte lösen sich scheinbar nicht gänzlich in Luft auf, nur weil man im Sterbebett liegt.

Olive Kitteridge und die Einwohner Crosbys

Die kleine Küstenstadt Crosby in Maine wirkt auf den ersten Blick verschlafen und unscheinbar, aber hinter jeder Haustür verbirgt sich eine andere spannende Lebensgeschichte. Olive Kitteridge, eine kräftige und schnottrige Frau, findet man hinter einer dieser zahlreichen Türen. Mit Ende siebzig hat sich nichts mehr zu verbergen. Weder vor sich selbst noch vor den anderen Bewohnern Crosbys. Hart geht sie mit sich ins Gericht und ist sich durchaus darüber bewusst, dass sie weder als Mutter noch als Ehefrau eine sonderlich gute Figur abgab. Auch als Lehrerin war nicht die Herzlichkeit ihre große Stärke.

In Die langen Abende ist Olive der rote Faden der Geschichte, der all die Einzelschicksale der kleinen Stadt auffädelt. Olive ist keineswegs menschenscheu und fragt direkt, aber ehrlich interessiert nach, wenn sie sieht, dass einer der Einwohner Crosbys Probleme hat. Auch wenn sie nicht besonders beliebt ist, bringt sie die Menschen zum Sprechen und es zeigt sich immer wieder, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat.

Schicksalsschläge

So unterschiedlich die Probleme der einzelnen Figuren auch sein mögen, sie werden alle mit dem Tod konfrontiert. Die eine leidet an einer Krebserkrankung, die andere steht vor dem verbrannten Haus, in dem ihr Vater den Flammen zum Opfer gefallen ist und Olive selbst wird von Jahr zu Jahr hilfsbedürftiger und büßt immer mehr von ihrer geliebten Unabhängigkeit ein. Deutlich wird, dass Tod und Krankheit nichts sind, womit Freunde und Familie gut umgehen können. Der eine spielt die Krebskrankheit seiner Frau stets hinunter und die psychisch kranke Mutter wird im Pflegeheim schlichtweg vergessen oder besser verdrängt. Andere wiederum stellen fest, dass ihr Ehemann, den sie zeitlebens hassten, eigentlich den wichtigsten Teil des eigenen Lebens darstellte.

Man geht durchs Leben, und man denkt, man ist jemand. Nicht im guten Sinn und auch nicht im schlechten. Aber man denkt, man ist jemand. Und dann merkt man, dass man eben niemand mehr ist. Dass man für eine Kellnerin mit monströsen Hinterteil unsichtbar ist. Und das ist befreiend.

Elizabeth Strout in Die langen Abende

Der Tod

Elizabeth Strout rechnet in diesem Roman ab. Am Lebensabend scheint man vieles klarer zu sehen als in jüngeren Jahren und die bereits gelebten Jahre zeigen sich unverblümt und wahrhaftig. Wohl jeder stellt sich dann die Fragen: Wer hatte welche Bedeutung in meinem Leben? Was ist mir wichtig? Was kann ich verzeihen und was nicht? Wofür bin ich dankbar? 

Der Tod wird hier nicht als Lösung aller Probleme dargestellt. Als Suzanne mit dem Notar, der das Erbe ihres Vaters verwaltete sprach und herauskam, dass er mit Wertpapieren gehandelt hat, die moralisch kaum vertretbar sind, wurde ihr immer deutlicher, dass ihr Vater in vielerlei Hinsicht ein schlechter Mensch war. Auch Krebserkrankungen sorgen nicht automatisch dafür, dass Beziehungen enger zusammenwachsen, sondern vielmehr auseinanderdriften. Während der Erkrankte sich immer weiter von dem aktiven Leben entfernt, läuft für den Rest der Familie der Alltag weiter. Da passen Gedanken über den Tod und Angst nicht hinein.

Die Einsamkeit am Ende

In all den Gesprächen, die Olive mit den Einwohnern Crosbys führt, wird immer wieder deutlich, dass das, wovor wir Menschen am meisten Angst haben, die Einsamkeit ist. Auch wenn Olive forsch und nicht besonders liebevoll ist, zeigt sie ernsthaftes Interesse an dem Leid ihrer Mitmenschen und als Leser stellt man immer wieder fest, wie tröstlich dieses Interesse sein kann. Es verleiht dem eigenen Dasein in seiner Angst vor dem Tod oder in der Einsamkeit Bedeutung. Jemand opfert seine Zeit, um deine Geschichte zu hören oder dir zu helfen.     

Vielleicht ist es die eigene Einsamkeit, die Olive dazu bewegt, sich ihrer Mitmenschen anzunehmen. Vielleicht ist es auch bloß egoistischer Selbstschutz, um auch Zuhörer ihrer Geschichte zu finden. In dem Haus ihres zweiten verstorbenen Ehemannes stört sie die Größe und Weitläufigkeit. Nach einem Herzinfarkt erscheint ihr alles schwer erreichbar und sie klammert sich vehement an ihren letzten Schlüssel zur Unabhängigkeit: das Auto. Es kann so wütend machen, Freiheiten aufgeben zu müssen! Und wenn man diese gleichermaßen mit zunehmender Einsamkeit einbüßen muss, kann man sich auch mal in seinen Hausarzt aus lauter Verzweiflung verlieben. Das Altern scheint eine einsame Angelegenheit zu sein, die einen dennoch von so vielen Menschen abhängig macht. Paradox.

Und Olive dachte, wie häufig die Menschen doch jemanden liebten, den sie kaum kannten – wie beständig eine solche Liebe sein konnte, und wie tief, selbst wenn sie, wie in Olives eigenem Fall, nicht von Dauer war.

Die langen Abende von Elizabeth Strout, S.319

Lesenswert?

Elizabeth Strout beweist in Die langen Abende Empathie für die Vergessenen. Ob es die Hinterbliebenen oder die Sterbenden sind, sie formt die zahlreichen kleinen Scherben in verschiedensten Farben zu einem kaleidoskopartigen Bild. Bei all den Unterschieden und den individuellen Lebenswegen, die jede einzelne Figur ausmacht, findet Olive Kitteridge den eigentlichen gemeinsamen Nenner, der uns alle verbindet: Das Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung.  

Ein Roman, der wenig Spannung erzeugt, diese aber auch nicht benötigt. Die lose durch Olive verstrickten Kapitel plätschern dahin und gehen dabei subtil unter die Haut. Das Unaussprechliche findet hier an vielen Stellen Raum und das ist das, was dieses Buch definitiv lesenswert macht.

Und ihm schien, dass sie niemals leichtfertig abgetan werden durfte, die Einsamkeit am Grund eines jeden Lebens, und dass die Entscheidungen, die die Menschen trafen, um dieser klaffenden Schwärze zu entgehen, Entscheidungen waren, denen Respekt gebührte.

Die langen Abende von Elizabeth Strout, S.236
Die langen Abende von Elizabeth Strout
btb Verlag
349 Seiten
12,00 Euro (Taschenbuch)

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