„Jeder Mensch“ von Ferdinand v. Schirach – Was müssen demokratische Verfassungen heute leisten?

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Sollte man staatliche Verfassungen von Zeit zu Zeit den tatsächlichen Gegebenheiten anpassen oder sich weiterhin auf das verlassen, was vor vielen Jahren als ausreichend angesehen wurde? Eine sich angesichts steigender Bedrohungen durch Internet, Weltkonzerne oder den Klimawandel aufdrängende Frage, die Ferdinand von Schirach in seinem aktuellen Buch zu beantworten versucht.

Utopische Verfassungen

Beginnend mit dem Entstehungsprozess der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der daraus im Jahre 1787 kreierten demokratischen amerikanischen Verfassung beschreibt der Autor in Jeder Mensch die Umstände, unter denen diese heute noch gültigen Leitfäden von den Gründervätern der USA festgeschrieben wurden.

In einer nach unseren heutigen Maßstäben unfreien Welt und Gesellschaft der George Washingtons und Alexander Hamiltons mit ihrem Heer von Sklaven schrieb man damals von „selbstverständlichen Wahrheiten“, die z.B. besagen, dass der Schöpfer alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten wie Leben, Freiheit und Streben nach Glück ausgestattet hat.

Diese, aus heutiger Sicht, eher als Ankündigungen oder Idealvorstellungen zu verstehenden Formulierungen, die den Rahmen der damaligen Verfassungen setzten, waren schon zu der damaligen Zeit Utopien. Ein verschwommener Blick in eine ferne Zukunft, die besser, freier und gerechter sein sollte, als es die Gegenwart war.

Der Ursprung europäischer Verfassungen

Von Schirach blickt auch auf die erste demokratische Verfassung eines Landes auf dem europäischen Kontinent – Frankreich. Er beschreibt den „Infektionsprozess“ der Umsetzung des demokratischen Gedankens, der mithilfe des französischen Marquis de Lafayette, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine entscheidende Rolle an der Seite George Washingtons spielte und der diesen ermutigenden Freiheitsfunken zurück mit auf den Kontinent brachte, der letztendlich zur französischen Revolution und langfristig zur Transformation vieler weiterer europäischer Länder zu demokratischen Staaten führte.

Das Büchlein beschäftigt sich demzufolge auch mit dem ersten Entwurf, dem Entstehungsweg und dem Status Quo der Verfassung bzw. der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2009, einem vergleichsweise hochkomplizierten, weil alle Mitgliedsländer berücksichtigenden und gleichzeitig nicht das Gesamtziel zu vernachlässigendem Rechtsgebilde. Interessanterweise kennen nur etwa 12 % der Europäer den Inhalt ihrer Verfassung und Verletzungen dieser Charta durch Mitgliedsstaaten können nicht vor den Europäischen Gerichten eingeklagt werden.

Eine neue Welt fordert neue Gesetze

Der große Sprung aber, mit dem von Schirach auf die ihm eigentlich am Herzen liegende Gesetzeslücke hinweist, beginnt, wenn er seinen Entwurf von sechs zusätzlichen Artikeln für die Europäische Verfassung eröffnet. Und zwar mit den Überschriften Umwelt, digitale Selbstbestimmung, künstliche Intelligenz, Wahrheit, Globalisierung und Grundrechtsklage.

Seiner Ansicht nach Themen, die in alten Verfassungen noch nicht bedacht wurden, da sie aufgrund damals noch nicht erschlossener Technologien und den daraus resultierenden Folgen für die Menschheit schlicht noch nicht auf dem Tisch lagen.

Ergo: der verfassungsrechtliche Griff des Autors in die Zukunft, um die bereits erfolgten und zu erwartenden weitreichenden Auswirkungen z.B. des Internets, der Auslagerung von Arbeit in Billiglohnländer oder des Klimawandels künftig zu berücksichtigende – zusätzlich noch erweitert um die besonders wichtige und bis heute fehlende Möglichkeit der gerichtlichen Einklagung dieser Rechte.

Abschließend ermöglicht der Autor jedem in der Europäischen Union lebenden Leser Einfluss darauf zu nehmen, dass diese Artikel tatsächlich in die Charta einfließen werden, indem er im Internet seine Stimme zu dieser Verfassungsergänzung abgeben kann, ganz einfach per QR-Code übers Smartphone, Tablet oder PC.

Von Schirach spendet sämtliche Einkünfte des Buches einem gemeinnützigen Verein, der sich um die Durchsetzung dieser Rechte bemüht.

„Jeder Mensch“ – ein längst überfälliger Gedanke

Was für eine mutige und brilliante Idee: Hier nutzt ein prominenter Bestsellerautor und Jurist seinen hohen Bekanntheitsgrad und sein Faible für juristische Fragen im Spiegel unserer Gesellschaft für dieses Manifest – Chapeau!

Eigentlich liegen die aufgegriffenen Themen schon lange auf der Hand, werden verfassungsrechtlich aber bisher eher gemieden. Auf europäischer Ebene ist dieser Umstand wohl seinen ohnehin schwergängigen gesetzgeberischen Mühlsteinen geschuldet. Immerhin gilt es bei solchen Versuchen die Zustimmung aller beteiligter Länder zu erhalten und die bleibt ja schon bei vergleichsweise leichteren Versuchen oft auf der Strecke. Die Auslegung der Demokratiewerte ist in Europa eben oft sehr unterschiedlich. Einige osteuropäische Länder haben nach jahrzehntelangem Leiden unter der totalitären Führung der UdSSR eine tiefsitzende Abneigung gegen jegliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, vergessen dabei aber oft, dass eine Demokratie laufend gepflegt, angepasst und hinterfragt werden muss, insbesondere wenn sie ein Teil einer Union mit vergleichbaren Werten sein will. Ganz zu schweigen von den ökonomischen Vorteilen, die diesen Ländern durch ihre Mitgliedschaft in der EU zu teil wurden und werden.

Absolute Demokratie vs. repräsentative Demokratie

Zudem sind von Schirachs Gedanken über das Wesen von Demokratien klug, interessant und durchaus erhellend. Seiner in wenigen Sätzen auf den Punkt gebrachte Vergleich zwischen Volksabstimmungen, also direkten und absoluten Demokratien und den vergleichsweise langsamer arbeitenden Beschlusswegen repräsentativer Demokratien, ist hierfür ein gutes Beispiel. Er behauptet z.B., dass eine Volksabstimmung über die Todesstrafe kurz nach einem spektakulären Sexualmord vermutlich dazu führen wurde, dass die Mehrheit für die Einführung derselben wäre. Eine repräsentative Demokratie würde für eine entsprechende Gesetzgebung deutlich mehr Zeit benötigen. Und das ist auch gut so. Wut und Rache als Ratgeber sind Gift für so wichtige Entscheidungen. Der kluge Kompromiss und der vorsichtige Ausgleich von Interessen sollten immer im Vordergrund stehen.

Sein Vorschlag, diese neuen sechs zusätzlichen Grundrechte zur Abstimmung vorzulegen, entspricht einem ersten Schritt in die Zukunft, in der diese wichtigen und zeitgemäßen Rechte unbedingt Einzug halten sollten. Denn – sie werden dringend gebraucht.

Funktionierende Demokratien in Pandemiezeiten

Mit seinem Beispiel von funktionierenden Demokratien in der Corona-Pandemie, die, herausgefordert von dieser globalen Gefahr, fast alles möglich machten, um der Lage Herr zu werden, gibt ihm Recht darin, dass jede Art von gesetzlicher Anpassung an bestehende oder mögliche Gefahren oder Bedrohungen unserer Gesellschaft möglich sein müssen.

Wie ein TÜV, der in regelmäßigen Abständen die Wirksamkeit bestehender Rechtssysteme überprüft.

Der abschließende Hinweis des Autors auf die weitreichende Einflussnahme der Weltkonzerne, der Durchsichtigkeit jedes Einzelnen, die in weiten Teilen noch ungeschützte Umwelt und der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen von Millionen von Menschen unterstreicht noch einmal sein Anliegen.

Und eigentlich geht uns dies doch alle an, oder?

Lesenswert?

Als dieses Büchlein das erste Mal vor mir lag, in seiner von der Größe, Betitelung und seinen ganzen 31 Seiten eigentlich mehr an einen kleinen, hübschen Gedichtband erinnernd, fragte ich mich, wie der Autor sein so schwerwiegend wirkendes Anliegen hierin unterbringen konnte.

Aber – wie ich zugeben muss, er konnte!

Zu einem Preis von ganzen 5 (fünf) Euro für dieses Buch gelingt es ihm durch die gut verständliche Sprache, die kurzen prägnanten Sätze und dem geschickten Aufbau der Leserin und dem Leser die Wichtigkeit seines Unterfangens zu vermitteln. Neben seiner klugen gesetzgeberischen Initiative lädt es zum Nachdenken über die uns schon viel zu sehr zur Selbstverständlichkeit mutierten Staatsform Demokratie ein. Einem Erfolgsmodell, das uns in unserem Land nun schon seit vielen Jahrzehnten Freiheit, Frieden und Geborgenheit ermöglicht. Wir sollten uns nur häufiger darüber im Klaren und auch dazu bereit sein, sie immer dort zu verteidigen, wo sie angegriffen, in Frage gestellt oder verhöhnt wird.

Wir müssen sie uns eben täglich verdienen.

Vielleicht sollte man dieses Büchlein als kleine Erinnerung an all diese für uns so lebenswichtigen Dinge verstehen und von Zeit zu Zeit ein wenig darin lesen.

Es würde uns allen sicherlich guttun – Klare Leseempfehlung!

Jeder Mensch von Ferdinand von Schirach
Luchterhand Verlag
31 Seiten
5 Euro

Ein spannendes und empfehlenswertes Interview mit Ferdinand von Schirach führte der Podcast Hotel Matze: https://www.youtube.com/watch?v=X922nzk4XOQ&ab_channel=HotelMatze

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