Die Frage nach der Herkunft scheint für viele von uns leicht zu beantworten zu sein. Ist doch klar, man ist in einem Land geboren und somit Deutscher, Inder, Australier oder irgendeiner anderen Nation zugehörig. Doch woher kommt man eigentlich, wenn sich das Herkunftsland in Einzelstaaten zersplittert? Saša Stanišić beschreibt in dem Roman „Herkunft“ sein Leben als jugoslawischer Geflüchteter in Deutschland und die damit verbundene Komplexität des Begriffs „Herkunft“. Das Verschwinden seiner Heimat und sein Neuanfang in Deutschland stellen ihn vor zahlreiche Fragen: Aus was setze ich mich zusammen? Welchen Einfluss habe ich auf meine eigene Identität? Bin ich vielleicht nur ein Produkt des Zufalls?
Ein Besuch bei der Ausländerbehörde
Die Geschichte beginnt mit dem Ausfüllen eines Antrags auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Geburtsort- und datum sind schnell eingetragen, aber wie soll man ein Leben, das so viele Stationen durchquert hat und von unterschiedlichsten Menschen beeinflusst worden ist, auf die engen Lücken eines tabellarischen Lebenslaufs herunterbrechen? Für Stanišić beginnt eine Reise in die Vergangenheit, ein Eintauchen in die Erinnerung, die ihn zwischen seiner Heimatstadt Višegrad, Oskoruša und Heidelberg hin und her springen lässt.
Flucht nach Deutschland
Die ersten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte Stanišić in Jugoslawien. Er wuchs dort behütet als Sohn eines Betriebswirts und einer Politikprofessorin auf. Das Glück nahm mit der Besetzung von Višegrad durch bosnisch-serbische Truppen eine abrupte Wendung und zwang die kleine Familie zur Flucht nach Deutschland. Stanišić hatte Glück: Eine Clique, die ihm Halt bot und Lehrer, die inspirierten, ihn träumen ließen und ihn unterstützen, bestimmten seinen Alltag. Auch wenn ihm das Erlernen der deutschen Sprache einiges abverlangte, merkte er schnell, dass Sprache ihn faszinierte und er mit ihr umgehen konnte. Er begann, Gedichte zu schreiben – zunächst auf seiner Muttersprache dann auf Deutsch. Seine Eltern hatten mehr zu kämpfen. In Jobs, die deutlich unter ihrer Qualifikation lagen, schufteten sie bis zur Erschöpfung, so dass kaum Zeit blieb, um Freundschaften zu knüpfen, die Sprache zu lernen oder einfach nur anzukommen.
Großmutter Kristina
Immer wieder erscheint die demente Großmutter Kristina in Stanišićs Erinnerungen. Sie lebt in der Vergangenheit, verwischt die Grenzen zwischen dem Hier und Jetzt und dem, was eigentlich schon passiert ist. Sprunghaft durchlebt sie Szenen aus der Vergangenheit, die Stanišić dabei helfen, das Fundament seines Lebens zu rekonstruieren. Schweren Herzens muss sie in einem Pflegeheim untergebracht werden, nachdem sie ihren Arm beim Hinaufklettern auf einen Ofen brach. Die unter Demenz leidende Großmutter macht deutlich: Erinnerungen sind nicht chronologisch und vollständig. Sie sind vielmehr Assoziationen, die mit Orten, Gegenständen oder Menschen verknüpft sind und unkontrolliert auftauchen, wenn man es zulässt.
Auch im letzten Kapitel des Romans spielt die Großmutter eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt eines Verwirrspiels ist ein Besuch bei Kristina im Altenheim, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Wie es danach weitergehen soll, entscheidet der Lesende. Stanišić lässt nach jeder gelesenen Seite den Lesenden wieder neu wählen, was passieren soll und schickt ihn, je nach Wahl, auf die passenden Seiten. Etwas mehr als 50 Seiten treibt er dieses Spiel und macht uns deutlich, dass alles möglich ist, aber nichts notwendig.
Besonderheiten des Erzählstils
Nicht ohne Grund hat Saša Stanišić den deutschen Buchpreis für seinen Roman „Herkunft“ verliehen bekommen. Ein Jurymitglied hätte den Schreibstil, der sein Werk so besonders macht, nicht besser beschreiben können: „Unter jedem Satz dieses Romans wartet die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist. Verfügbar wird sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte.“ Das sprunghafte Wiedergeben von Erinnerungsfetzen geben dem Lesenden stets das Gefühl, mit Stanišić auf einem alten Dachboden zu kramen und in jeder Ecke ein weiteres Puzzleteil seiner Herkunft und Identität zu finden. Die Ich-Perspektive verstärkt das Gefühl, diese Erinnerungsketten nachempfinden zu können und sich in ihnen zu verlieren.
Eins wird besonders deutlich durch diese durchweg anachronistische Aneinanderreihung von Erzählungen aus der Vergangenheit, die, gefärbt von der Fabulierlust des Erzählers, sich stets zwischen Fiktion und Biografie bewegen: Herkunft ist Zufall. Ebenso die Erinnerung. Sieht man doch an Oma Kristina, bei der die Erinnerungen unberechenbar auftauchen.
Die Zufälligkeit unserer Herkunft
„Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat.“ (S.67 in „Herkunft“) – Warum auf das eigene Herkunftsland stolz sein, wenn man doch nichts dazu beigetragen hat, dass genau an diesem Fleck die eigene Geburt stattgefunden hat? Sind es nicht nur die Zufälle, die unsere Wohnorte bestimmen? Stanišić hat wenig Verständnis für übertriebenen Patriotismus, für das Aufopfern für das Vaterland. Ebenso ist die eigene Familie ein reines Produkt des Zufalls. Wer kann schon mitbestimmen, wer seine Eltern werden? Die meisten von uns sind der Macht des Schicksals unterlegen und müssen sich mit der Umgebung und den Umständen abfinden, in die sie hineingeboren werden. Selbst entscheiden zu können, wo man leben möchte, ist ein Privileg, was man nur durch jede Menge Glück erlangen kann: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann.“ (S.123 in „Herkunft“)
Will Stanišić uns damit sagen, dass wir unsere Identität nicht beeinflussen können? Ist alles nur eine Art Glücksspiel und man gehört entweder zu den Begünstigten, die in das richtige Land und Familie hineingeboren wurden oder zu denen, die weniger Glück hatten? Ja, das meint er wahrscheinlich. Aber wie er in seinem letzten Kapitel, in dem wir mitbestimmen können, wie die Geschichte weitergeht, so wunderbar verdeutlicht, stehen wir unser ganzes Leben vor zahlreichen Entscheidungen, die wir selbst treffen können. Auch wenn die Herkunft dem Zufall unterlegen ist, ist unsere Identität auch das, was wir selbst daraus machen. Unsere Entscheidungen formen letztendlich unseren Lebensweg, die sicherlich immer gefärbt sein werden von dem Einfluss der Familie und der Kultur, in die man hineingeboren wurde, aber für die wir dennoch selbst verantwortlich sind.
Warum lesenswert?
„Herkunft“ ist ein besonderes Buch. Biografie trifft hier auf Fiktion, Philosophie auf das Fabulieren. Stanišić ist es gelungen, die Architektur der Herkunft zu erforschen, die sich aus einigen wenigen Fakten, jeder Menge Erinnerungen und viel Fantasie zusammensetzt. Denn was bleibt, wenn man den Streifzug durch die Vergangenheit, das Fundament unserer Herkunft, abgeschlossen hat? Ein Mosaik aus dir selbst, was in seiner Vollständigkeit nie ganz greifbar sein wird.
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