Altes Land von Dörte Hansen – Die Neuerfindung des Heimatromans

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Südlich der Elbe in Hamburg und Niedersachsen erstreckt sich der Schauplatz des Debütromans Altes Land von Dörte Hansen. Die ländliche Idylle, die gespickt von Obstbäumen und Fachwerkhäusern so manch einen Tagestouristen aus der Großstadt anzieht, steht ebenso sinnbildlich für das Alte Land wie seine verschrobenen Einwohner. Doch die Autorin verliert sich nicht in Klischees von Land- und Stadtbewohnern, sondern erzählt in ihrem Roman von einer Sehnsucht, die uns scheinbar alle verbindet: Der Wunsch nach Heimat.

Der Beginn eines Lebens im Alten Land

Vera Eckhoff lebt seit ihrem fünften Lebensjahr in dem verwitterten Fachwerkhaus. Sie selbst hat es nicht zur Heimat auserkoren, sondern als kleines Kind ließ sie die gemeinsame Flucht aus Ostpreußen mit ihrer Mutter im Elbmarschland stranden. Der Zweite Weltkrieg fragte nicht nach den Wünschen der Flüchtenden, sondern man musste das annehmen, was sich eben anbot. So stand sie mit Mutter Hildegard vor den Türen Ida Eckhoffs, die mit ihrem Sohn Karl eine Obstbaumplantage besitzt.

Vera und Hildegard wissen, wie sie sich einen Platz auf dem Hof erkämpfen können: Mit jeder Menge Hartnäckigkeit und unerschütterlicher Arbeitsmoral. Der vom Krieg traumatisierte Karl findet Gefallen an den beiden geflüchteten Damen auf dem Hof und heiratet Hildegard. Vera adoptiert er. Doch Ida und ihre Schwiegertochter müssen leider immer wieder feststellen, dass zwei Frauen und nur ein Herd nicht lange gut gehen kann. Die alte Eckhoff befreit sich letztendlich aus der Familienfehde und erhängt sich auf dem Dachboden.

Das zurückgebliebene Kind

Auch wenn Hildegard nun die Herrin des Hauses ist, hält sie es nicht lange mit Karl aus, der zu viel von Schützengräben träumt, und beginnt in Hamburg mit einem neuen Mann und Kind ein zweites Leben in Deutschland. Vera bleibt bei ihrem Adoptivvater und beide wurschteln sich durch den Alltag auf dem Land. Wie der Nachbarsjunge der beiden feststellt, nachdem Vera ihren Schulabschluss in einem alten viel zu großen Kleid feiert und allein mit Karl in der Küche, leben die beiden Eckhoffs anders, aber keineswegs schlecht.   

Das stets gebliebene „Polackenkind“ verlässt selbst nach dem Tod Karls nicht das alte Fachwerkhaus, was immer mehr dem wilden Marschland zu ähneln scheint. Denn Änderungen am Haus gehen immer einher mit Unglück. Also lieber nicht daran rühren. Als Zahnärztin verdient sie ihr Geld, bleibt aber stets ohne Mann und Kind. Sie hat es einfach vergessen, dass sie gerne Kinder gehabt hätte und als sie sich wieder erinnerte, war es bereits zu spät.

Flucht aus Hamburg

Der Roman handelt aber nicht nur von der Flucht und Ankunft Vera Eckhoffs, sondern auch von derer ihrer Nichte Anne, die es auch in das marode Haus ihrer Tante verschlägt. Mit ihrem Sohn an der Hand steht sie eines Tages vor den Türen der einsamen Vera, die einzig und allein mit den Geistern der Verstorbenen zusammenlebt. Anne fand ihren Freund und Vater des Sohnes nackt in der Küche sitzend vor mit seiner Lektorin.

Warum sie ausgerechnet vor Veras Tür steht, weiß sie nicht genau. Die Suche nach einer Heimat trieb auch Anne in die Arme des Alten Landes mit ihren knarzigen Dielenböden und den kaltschnäuzigen Einwohnern. Doch anders als Hildegard und Ida einst, beweisen die Tante und Nichte, dass man sich durchaus einen Herd teilen kann.

Die Hamburger Schickeria vs. die Bewohner des Alten Landes

Nicht nur auf das Leben der zwei Protagonistinnen geht Dörte Hansen in ihrem Roman ein, sondern auch die Nachbarn von Vera, die Nöte und Sorgen der Kleinbauern im Alten Land und die natursuchenden Städter erhalten eine Stimme. Sie rechnet ab mit den geplagten Großstädtern, die für ein Wochenende in der Natur die Gummistiefel überziehen und sich in den Hofläden mit feiner Biokost eindecken. Wenn es zu ungemütlich wird, zieht es sie schnell zurück in ihre von Kinos, Theater und Restaurants gespickte Umgebung. Wirklich Gedanken macht sich keiner darüber, was für Existenzängste die Bauern plagen, die durch stets neue Auflagen kaum mehr Geld für ihre harte Arbeit erhalten. Auch an Nachwuchs mangelt es, der bereit wäre, in die Gummistiefel der Väter zu steigen.

Burkhard Weißwerth und seine Frau Eva haben den Sprung gewagt: Genug von schlechter Luft und Kapitalismus, nun soll das Alte Land den so benötigten Seelenfrieden bringen. Im Einklang mit der Natur leben und alles endlich mal viel langsamer angehen. Burkhard arbeitete als Journalist für eine Hamburger Zeitung und nun sollte alles anders werden. Er schreibt sein erstes Buch über das Leben auf dem Land und träumt von einem eigenen Magazin. „Land & Lecker“ soll es heißen. Doch Eva und Burkhard wird schnell bewusst, dass die idyllische Landkulisse trügt, die Winter windig, schmuddelig und einsam sind und die Arbeit im Sommer wirklich harte Arbeit ist.

Altes Land – ein moderner Heimatroman

Die Suche nach Heimat ist wohl der gemeinsame Nenner aller Figuren des Romans. Doch diese Suche hat nichts mit einem klassischen Heimatroman gemein, der starre Rollenbilder und Werte mit einem idyllischen Leben auf dem Land in Einklang bringt. Eine Idylle gibt es sowieso nicht in Dörte Hansens Roman, sondern Sorgen und Nöte, die wohl alle Menschen zu plagen scheinen und nicht selten in der Frage nach der eigenen Herkunft münden.

Moderne Zeiten fordern eine neue Definition von Heimat und genau das wird aus der Geschichte rundum Vera und Anne deutlich. Wo lassen sich in einer immer komplexer werdenden Welt noch die eigenen Wurzeln finden?  Welche Bedeutung hat Familie und Herkunftsland für ein Heimatempfinden? Kann man sich in einer Wahlheimat jemals richtig heimisch fühlen? All diesen Fragen gehen die unterschiedlichen Figuren aus Stadt und Land auf den Grund und als Lesender stellt man immer wieder fest, dass es scheinbar keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen gibt. Denn je nach Perspektive, Charakter und Vorgeschichte fallen die Erkenntnisse vielfältig aus. Doch eines wird am Ende deutlich: Heimat ist ein Gefühl, was individueller nicht sein könnte. Zu sich selbst ehrlich sein und diesem Gefühl nachzugehen, führt einen zu den eigenen Wurzeln und vielleicht auch zu einer gewissen inneren Ruhe.

Warum lesenswert?

Kaum eine Autorin weiß so gut die norddeutsche Reserviertheit in Worte zu fassen wie Dörte Hansen. In fast lyrischer Sprache stellt sie auf einzigartige Weise die unverschnörkelte und kaltschnäuzige Denk- und Sprechart der Menschen im Hamburger Umland dar. Die Multiperspektivität des Romans macht deutlich, dass die Autorin mit viel Empathie Einblicke in die Einzelheiten unterschiedlichster Charaktere gewähren kann und diese Einzigartigkeiten nicht nur im Inhalt verdeutlicht, sondern auch in der Sprache.

Altes Land ist ein absoluter Lesegenuss und ebenso empfehlenswert wie Dörte Hansens zweiter Roman Mittagsstunde. Sowohl soziologisch als auch literarisch ist es ein Werk, was jeden Norddeutschen stolz machen kann, aus einer Gegend zu kommen, die solche Schriftstellerinnen inspiriert. Es bleibt zu hoffen, dass noch zahlreiche weitere Romane folgen werden.

Altes Land von Dörte Hansen

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