Dann schlaf auch du von Leïla Slimani: Was für Eltern wollen wir sein?

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So süßlich und harmonisch der Titel auch klingen mag, der erste Satz des Romans löst die Harmonie mit einem bitteren Schlag auf: „Das Baby ist tot.“  Leïla Slimani erzählt hier eine Tragödie, die in Paris spielt. Bereits auf den ersten Seiten befindet sich der Leser auf dem Höhepunkt der Geschichte und lechzt danach zu erfahren, wie es dazu kommen konnte, dass ein Kindermädchen sich und ihre Schützlinge umbringen wollte. Die folgenden Kapitel rollen die Hintergründe des Vorfalls auf. Slimani packt dabei die großen Themen der Gegenwart an: Die Emanzipation der Frau, das zunehmende Aussourcen von Pflege- und Fürsorgetätigkeiten aus der Familie und den Wert, den wir heutzutage noch unseren Kindern beimessen.

Das perfekte Kindermädchen

Myriam und Paul haben sich für ein konservatives Familienmodell entschieden: Er geht arbeiten, sie bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Eigentlich genießt Myriam ihre Mutterrolle. Sie entscheidet sich sogar für ein zweites Kind, damit sie nicht wieder arbeiten gehen muss. Doch damit ändert sich schlagartig ihre Einstellung zu ihren Aufgaben. Mit ungepflegten Haaren, uninspiriert von dem Alltag, der sich nur zwischen Spielplatz, Wickelkommode und Küche bewegt, trifft sie auf einen ehemaligen Kommilitonen, der mit ihr Jura studiert hat. Er erinnert sie an das, was alle damals in ihr sahen und was sie als junge Studentin anstrebte zu sein: eine angesehene und erfolgreiche Juristin.

 Der Ehrgeiz packt sie wieder und es kann nicht schnell genug gehen, ein geeignetes Kindermädchen zu finden, dass sie in den Aufgaben des Alltags mit Kindern vertritt, wenn sie wieder arbeiten geht. Dem Ehepaar passt es daher nur zu gut, dass sie schon bald auf Louise stoßen. Mit einwandfreien Referenzen, einem sofortigen Zugang zu den Kindern und ihrem peniblen Hang zur Ordnung scheint sie sich nahtlos in das Familienleben einzufügen. Ein Leben beginnt, das sich Paul und Myriam nicht schöner hätten ausmalen können. Die Kinder lieben ihre Nounou, beide können ihrer Karriere nachgehen und sogar bei abendlichen Dinnerpartys brillieren sie mit den Kochkünsten von Louise vor ihren Freunden.

Das Abgeben der Verantwortung

Auch als Paar finden sich die beiden wieder. Louise schafft Freiräume, damit sie Zeit zu zweit verbringen können und sie genießen, auch wenn es unausgesprochen bleibt, sich immer weiter von ihrer Elternrolle entfernen zu können und dabei sich sicher zu wähnen, dass ihre Kinder in guten Händen sind.

Alles, was er wollte, war, nicht nach Hause zurückkehren, frei sein, noch mehr leben, denn er hatte so wenig gelebt und es zu spät bemerkt. Die Vaterrolle erschien ihm zugleich zu gewichtig und trübselig. Aber nun war er Vater und konnte schlecht sagen, dass er die Kinder doch nicht mehr haben wollte. Sie waren da, geliebt, vergöttert, niemals mehr infrage gestellt, trotzdem hatte sich der Zweifel überall eingeschlichen.“

S.151, Dann schlaf auch du

Immer länger werden die Arbeitszeiten von Louise. Neben Kinderbetreuung macht sie Essen für die ganze Familie, wäscht Wäsche, bügelt, hält die Wohnung sauber und richtet sie sogar so ein, dass sich alle viel wohler darin fühlen. Auch Louise richtet sich im Leben der Massés ein, macht sich unverzichtbar durch ihre tadellose Arbeit und begleitet die Familie sogar in ihren Urlaub.

Die Elternrolle scheint immer mehr von Myriam und Paul abzublättern. Sie definieren sich darüber, ein modernes Ehepaar zu sein, das alles unter einen Hut kriegt. Die eng getakteten Terminkalender der beiden lässt kaum Raum für die Kinder, aber den Ausgleich dafür liefert schließlich ihre teure Louise.

Das Kindermädchen als Hausherrin

Während die Familie ihr Leben ohne Abstriche lebt, bemerkt sie nicht, was wirklich hinter dem reservierten Kindermädchen steckt. Sie wissen weder von ihrer volljährigen Tochter noch von ihrer psychischen Erkrankung. Was Louise neben ihrem Job in ihrer Wohnung treibt, scheint für beide keinerlei Bedeutung zu haben.

So werden zahlreiche Anzeichen dafür, dass Louise psychische Probleme hat, ignoriert und heruntergeredet. Auch das zunehmende Einnehmen ihrer Wohnung scheint keinem Elternteil negativ aufzufallen, im Gegenteil, es ist ihnen sogar recht.

Die Einzige, die dem Lebenskonzept von den Massés skeptisch gegenüberzustehen scheint, ist Pauls Mutter. Sie kann es nicht nachvollziehen, warum man Kinder in die Welt setzt, mit denen man sich nicht beschäftigen möchte. Myriam fühlt sich angegriffen und ungerecht behandelt, denn die Frauen dieser Generation können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, den Spagat zwischen Arbeit und Kindern in der heutigen Zeit zu meistern. Während sich der Aufgabenbereich der Männer im Laufe der Zeit kaum verändert hat, wird von der Frau erwartet, sich um die Kinder hingebungsvoll zu kümmern, beruflich erfolgreich zu sein und sich in seiner kaum verfügbaren freien Zeit mit Freunden zu treffen. Sonst ist man nicht stark, nicht emanzipiert genug.

„Sie hatte nicht die Kraft, sich gegen diese Anklagen zu verteidigen, von denen sie wusste, dass sie zum Teil wahr waren, die sie aber als ihr Los und das vieler anderer Frauen betrachtete. Da war nicht das kleinste bisschen Raum für Nachsicht oder Mitgefühl. Nicht ein wohlmeinender Rat wurde erteilt, von Mutter zu Mutter, von Frau zu Frau.“

S. 165, Dann schlaf auch du

Ein kaum praktikables Familienkonzept

Warum kann wohl kaum einer dieses Buch lesen, ohne dieses dumpfe Gefühl zu spüren, mit dem Slimani ihre Leser entlässt? Fast jeder, der selbst Kinder hat, kennt diese Problematik, auf Betreuungshilfe angewiesen zu sein. Auch ein jeder kennt das schlechte Gewissen, das unterschwellig an einem nagt, wenn man zu oft und zu lange seine Schützlinge in fremde Hände gibt. Dennoch bietet die Gesellschaft kaum Alternativen. Es sind nicht nur die stets steigenden Lebenshaltungskosten, die viele Paare dazu zwingen, zwei Einkommen zu generieren, sondern auch der Druck auf die Frauen, der zunehmend sogar aus den eigenen Reihen entsteht.

Was ist man heute schon noch als Frau, wenn man „nur“ Kinder großzieht? Wir wollen alles und merken dabei kaum, dass wir letztendlich keiner Aufgabe vollends gerecht werden. Dass das Großziehen von Kindern ein 24/7 Job ist, wird heute kaum noch wahrgenommen und findet wenig Beachtung von der Gesellschaft. Auf Kosten unserer Kinder.

Geringe Wertschätzung für die Arbeit mit Menschen

Diejenigen, die unser stets utopischer werdendes Familienkonzept ausbaden dürfen, sind Pflegekräfte und Erzieher. Wie Menschen zweiter Klasse verbringen sie mehr Zeit mit unseren Kindern und Angehörigen als wir selbst und wir erwarten stets von ihnen, dass sie selbstverständlich die Distanz zu den betreuten Personen wahren. Für Louise wird es zunehmend schwerer, sich von den Familien zu lösen, die sie abstoßen, wenn sie Fehler macht oder die Kinder zu alt werden. Zu schnell vergisst man dabei, dass diese Menschen wertvolle Lücken schließen, die man selbst nicht bereit ist zu füllen.

Genau das scheint die Schwierigkeit an diesen Berufen zu sein, die auf eine enge Bindung zu den betreuten Personen basiert. Einerseits wird immer mehr von ihnen verlangt, die Fürsorge und Liebe zu kompensieren, die Angehörige nicht mehr geben können und andererseits will man sie auf Distanz halten, sie immer wieder daran erinnern, dass sie nicht dazugehören. Das Ehepaar aus Slimanis Roman tut genau dieses und weist immer wieder darauf hin, dass Louise bloß eine Angestellte sei, auch wenn sie sie stets loben, und begeistert von ihren Fähigkeiten sind.

Lesenswert?

Slimani zeigt in ihrem Roman eine Möglichkeit auf, was sich hinter der Fassade des perfekten Kindermädchens verbergen kann. Sicherlich ist es nur eine Möglichkeit von vielen, aber das steht auch nicht im Vordergrund der Handlung. Es ist vielmehr die Ignoranz der Massés, die sie ins Unheil führte. Wäre es anders verlaufen, wenn sie sich gefragt hätten, wie ihr Kindermädchen lebt, was für Nöte sie hat? Hätte es etwas geändert, wenn sie dem auffälligen Verhalten mehr Beachtung geschenkt hätten, statt sich mit ihren Karrieren zu beschäftigen? Man weiß es nicht.

Die französische Autorin lässt alle zu Wort kommen, wird nicht emotional, sondern schreibt, wie für sie so typisch ist, in einem auffallend nüchternen Ton. Die Erzählung erinnert an ein polizeiliches Protokoll, denn alle Stimmen finden Gehör und erfahren keinerlei Wertung. Dieser Eindruck wird am Ende noch verstärkt durch die Ermittlerin, die zu Wort kommt. Scheinbar will Slimani in dem hier aufgezeigten gesellschaftlichen Problem keine Partei ergreifen. Zu leicht würde man es sich machen, einem Akteur die Schuld zuzuweisen. Vielmehr ist es doch eine Verkettung von Entwicklungen, die uns kaum noch andere Möglichkeiten lassen.

Für Gemüter, die sich dem anfänglichen Szenario gewachsen sehen, ist es eine absolute Leseempfehlung. Es ist eine Gesellschaftskritik, die nicht anklagend ist, sondern zum Nachdenken über ein Thema anregt, über das viel häufiger nachgedacht werden sollte.

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