Über Menschen von Juli Zeh: Können Nazis gute Menschen sein?

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Dora muss raus aus Berlin. Der Corona-Alltag, eine scheiternde Beziehung und das Hamsterrad des Kapitalismus haben sie fest im Griff und nehmen ihr die Luft zum Atmen. Ein renovierungsbedürftiges Haus in Bracken, einem kleinen Dorf in Brandenburg, soll ihr den nötigen Fluchtpunkt bieten. Selbst Gemüse anbauen, abschalten und in die ländliche Idylle horchen – halt einen klischeehaften Traum einer gestressten Großstädterin leben. Doch so einfach ist das nicht mit dem Abschalten, denn in Bracken will sich nichts so richtig zuordnen lassen. Ein Nazi kann hilfsbereit sein? Ein Schwuler wählt die AfD? Die Grenzen zwischen Gut und Böse scheinen nicht so leicht zu ziehen zu sein wie Dora einst dachte.

Berlin im Lockdown

Berlin im ersten Lockdown: Leergefegte Straßen, geschlossene Büros und Ausgangssperren. Lediglich dringende Einkäufe, Sport und Spaziergänge mit dem Hund ermöglichen einen kleine Zeitfenster unter freiem Himmel. Die Gesellschaft spaltet sich in diejenigen, die die Panik vor der Pandemie auf die Spitze treiben und die, die sie gänzlich leugnen. Irgendwo dazwischen befindet sich Dora, die nicht ganz verstehen kann, warum ein Bier vor dem Späti nun wie eine Straftat behandelt wird, aber auch Verschwörungstheorien nichts abgewinnen kann.

Ihr Freund Robert sieht das anders. Nachdem er sich nun jahrelang, fast militant, auf das geringe Nachhaltigkeitsbewusstsein seines Umfelds gestürzt hat, stellt die Pandemie und all seine Leugner einen neuen Nährboden für seine Maßregelungen dar. Als Journalist lässt er sich ausführlich in seinen Artikeln und Kolumnen über die Bürger aus, die nicht mit der gleichen Ernsthaftigkeit Corona bekämpfen wollen wie er. Eingepfercht in einer 80m2-Wohnung hält Dora es nicht mehr aus und verlässt Robert. Von ihren Ersparnissen kauft sie ein altes Haus in Bracken, ein kleiner Ort, irgendwo in Brandenburg.

„Endlich gibt es verbindliche Regeln für eine außer Kontrolle geratene Welt. Endlich geht die verdammte Globalisierung in die Knie. Endlich Schluss mit dem grenzenlosen Herumwandern von Menschen, Waren, Informationen.“

Juli Zeh in Über Menschen, S.23

Der Dorfnazi als Nachbar

Bracken erfüllt alle Klischees, die man mit einem Dorf im Osten Deutschlands verbindet: AfD-Wähler, Bierabende unter Rechtsradikalen und blondierte Frauen. Ausgerechnet neben dem Dorfnazi Gote befindet sich Doras neues Eigenheim. Genervt von den Naziparolen holt sie immer wieder aus, um ihm die Meinung zu sagen, jeglichen Kontakt zu unterbinden, aber das ist gar nicht so einfach wie sie anfangs gedacht hat. Sich klar zu positionieren, scheint etwas zu sein, was aus einer schicken Berliner Wohnung besser funktioniert, als wenn man damit direkt konfrontiert wird.

Gote macht es ihr nicht leicht, ihn zu hassen. Immer wieder überrascht er sie mit Aufmerksamkeiten, die ihr im Haus fehlen. Ohne viele Worte hilft er ihr, sich einzurichten. Auch seine Tochter Franzi will so gar nichts von Doras Distanzierung wissen und kommt immer wieder die neue Nachbarin besuchen.

Ein braunes Dorf, das doch so bunt ist

Dora bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich auf die Dorfbewohner Brackens einzulassen. Schließlich ist sie auf ihre Hilfe angewiesen, die ihr auch immer wieder bedingungslos angeboten wird. So stößt sie auf ein homosexuelles Paar, das ihr ein Fahrrad zur Verfügung stellt oder eine alleinerziehende Mutter, die sich als interessante Gesprächspartnerin herausstellt.

Nach den ersten Wochen auf dem Land versteht sie die Sorgen der Anwohner noch etwas mehr, da sie nun selbst aufgrund mangelnder Aufträge in ihrer Werbeagentur arbeitslos wird. Lockdowns können sicherlich Viren und Keime eindämmen, aber Armut und Existenzängste lösen auch nicht selten eine Kette von weiteren Problemen aus.

Nach und nach bröckeln Doras Überzeugungen, die ihr von ihrem Ex Robert über Jahre auferlegt worden sind und sie beginnt sich mit den Problemen der anderen Dorfbewohner auseinanderzusetzen. Im wahren Leben scheint die Trennlinie zwischen Gut und Böse gar nicht so eindeutig zu sein. Sie scheint immer mehr zu verwischen, manchmal sogar gänzlich zu verschwinden, was Dora zu einer Neuorientierung ihrer persönlichen Werte zwingt.

„Es gelingt ihr einfach nicht, eine Haltung zu finden. Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet.“

Juli Zeh in Über Menschen, S.350

Die Banalität des Bösen

Schon die Philosophin Hannah Arendt tat sich schwer damit, das Böse leichtfertig zu definieren. Im Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann berichtete sie als Jüdin von den Geschehnissen im Gerichtssaal. Sie wurde stark dafür kritisiert, dass sie in diesem Gerichtssaal kein Monster auf der Anklagebank sah, sondern lediglich einen Mitläufer, der im Zuge der Arbeitsteilung und Gehorsamkeit seine Aufgaben erfüllte. Auch wenn sie ihn mit dieser Beobachtung nicht entlastete, denn sie ging davon aus, dass er auch hätte anders handeln können, wirkte es auf die Opfer des NS-Regimes so, als ob sie die Grausamkeit seiner Taten nicht benennen wollte.

Ab wann fängt das Böse an? Für Hannah Arendt war es das System, was böse war, der Totalitarismus. Der Nationalsozialismus wusste, wie man die Bevölkerung gefügig machte. Das Böse wurde verschleiert und ging in Anonymität und Arbeitsteilung für den Einzelnen unter. So funktionierten die meisten nur, aber viele wussten gar nicht, was das höhere Ziel ihres Handelns war.

Wie entstehen AfD-Wähler?

Gote, der Nachbar von Dora, oder die anderen AfD-Wähler in Bracken, leben zwar nicht in einem totalitären Regime, dennoch wählen sie das, was ihnen Hoffnung bietet. Viele Dörfer, insbesondere im Osten Deutschlands, haben eine schlechte Infrastruktur. Es gibt kaum zuverlässiges Internet, keine Lebensmittelläden, die man fußläufig erreichen kann und auch Busse sieht man höchstens dreimal am Tag die dürftigen Bushaltestellen passieren. Für die Landbewohner stellt die Einwanderungspolitik eine Bedrohung dar, da sie sich ohnehin schon übersehen fühlen. Ist es nicht naheliegend, dass diese Menschen sich rechts orientieren, einer politischen Denkrichtung, die den Fokus auf den Auf- und Ausbau des eigenen Landes legt und sich für die zurückgelassene Bevölkerung einsetzen will?

In dem Sinne erscheint das Böse ähnlich banal wie im Eichmann-Prozess. Die Struktur ist das Böse und vielerorts auch Ungerechte, welche Anhänger der AfD erzeugt oder gar des Nationalsozialismus. Wer das Gefühl hat, permanent zu kurz zu kommen, kann wenig Freude daran empfinden, dass das Land immer mehr Menschen aus anderen Ländern aufnimmt, die noch viel hilfsbedürftiger sind als man selbst.

Vielleicht fällt es Dora aus diesem Grund so schwer, sich von den Einwohnern, die so offenkundig rechte Witze machen und Naziparolen grölen, zu distanzieren. Durch das Leben in Bracken wird ihr zum ersten Mal bewusst, dass es für derartige Gesinnungen immer ein höheres Übel gibt, welches diese Gedanken aufkeimen lässt.

“ Die Worte klingen richtig, und es hat sich herrlich angefühlt, sie herauszuschreien. ‚Und ob ich besser bin.‘ Aber auf dem zweiten Blick ist dieser Satz die Mutter aller Probleme. Am Ortsrand von Bracken und im globalen Maßstab. Ein Langzeitgift, das die ganze Menschheit von innen zerfrisst.“

Juli Zeh in Über Menschen, S.367

Lesenswert?

Juli Zeh ist hier ein weiterer kritischer und bewegender Gesellschaftsroman gelungen. Kaum eine Autorin hat einen derart scharfen Blick auf ihr Umfeld und benennt Schwächen in vermeintlich politisch korrekten Einstellungen so präzise. In Über Menschen porträtiert sie die deutsche Gesellschaft im Krisenmodus, den scheinbar einige fanatische Gutmenschen sich sehnlichst herbeiersehnt haben.

Insbesondere wird in diesem Roman deutlich, dass political correctness scheinbar ein Luxusgut ist. So ist es doch viel leichter, sich für Umweltschutz und Pandemiemaßnahmen und gegen Rassismus klar und deutlich auszusprechen, wenn man mit den Problemen, die diese Überzeugungen mit sich bringen, nicht konfrontiert wird. Natürlich sieht man nur die Vorteile in Biolebensmitteln und Leinenbeutel, wenn man selbst kein Landwirt ist, der daran fast bankrottgeht. Auch mit dem Fahrrad und den öffentlichen Verkehrsmitteln lässt es sich in einer Großstadt wunderbar vorankommen. Doch lebt man in Bracken, merkt man schnell, dass ohne eine taugliche Infrastruktur der Verzicht auf ein Auto undenkbar ist. Auch Corona-Maßnahmen sind absolut nachvollziehbar, wenn die eigene Existenz davon nicht abhängt.

Der Roman lässt sich wunderbar lesen und ist an vielen Stellen augenöffnend. Man erwischt sich selbst doch immer wieder dabei, ein bisschen Robert in sich zu tragen, dann aber auch den Brackener Dorfbewohner. Und auf den letzten Seiten bleibt man orientierungslos zurück und stellt fest, dass Dorfnazis komischerweise auch gute Menschen sein können und dass das Gute und Böse häufig so dicht beieinander liegen kann.   

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Über Menschen von Juli Zeh
22 Euro
412 Seiten

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