Allein von Daniel Schreiber: Über buntscheckige und verwurzelte Gedankenbeete eines verästelten Lebenskonzepts

Bild1
Foto by Sonu Agvan on Unsplash

Nach der Lektüre von Daniel Schreibers aktuellem Buch ist das zu glückende Leben vielleicht weniger Schmiedearbeit und eher das Bestellen (d)einer inneren und äußeren Gartenanlage. Das hat nicht nur mit Schreibers botanischem Verständnis zu tun, sondern vielmehr damit, dass dieser tief und fest verwurzelte (Nähr-)Boden des Alleinseins von ihm essayistisch dergestalt aufgelockert wird, sodass eben diese Bodenarbeit eine nachhaltige Beackerung ermöglicht.

Biografische Nährstoffe und literarische Spurenelemente

Das Buch ist zunächst und vor allem ein persönlicher Essay, der die Leserschaft mit den Selbstverständlichkeiten und Gepflogenheiten des Singlelebens des Autors vertraut macht. Dadurch erwächst ein chronologisch und thematisch weitverzweigtes Geflecht biografischer Verästelungen, das u.a. weit in das dichter- und denkerische Erdreich der Themen »Alleinsein«, »Einsamkeit« und »Freundschaft« hineinreicht. Diese Themen sind nicht nur prosaische und philosophische Evergreens, sondern auch in den soziologischen wie psychologischen Böden tief verwurzelt. Allesamt reichern – fein dosiert – Schreibers Essay an. Nach und nach erfährt die Leserschaft in den acht Kapiteln [Das Leben allein • The Kindness of Strangers • Gespräche in Freundschaft • Niemals so allein • Uneindeutige Verluste • Tage in Famara • Arbeit am Körper • Abschiede] immer mehr über das subjektive Themenverständnis des Autors sowie den kollektiven Denkmustern und wie die pandemiebedingten Einflüsse Einzug in Schreibers Gärten erhalten.

Ich habe nie davon geträumt, allein zu sein. Ich habe nie davon geträumt, dass Freundschaften, nicht Partnerschaft und Familie die für mich wichtigste Sphäre der Nähe darstellen. Dennoch mag ich mein Leben […] Es ist eine saisonale Einsamkeit, das Symptom einer Zeit, in der es nicht gelingt, mir das bewusstzumachen, was ich mir sonst bewusstmache: dass ich vielleicht kein konventionell gutes, aber ein erfülltes, ein spannendes Leben führe, ein Leben voll anderer Arten des Wohlstands und der Liebe.

Allein, S. 20 u. 31

Was hier als saisonales Einsamkeitsgefühl umschrieben wird, ist die wiederkehrende Jahresendmelancholie, die wohl nicht nur den Autor als einzigen unter den ca. 17,5 Millionen Einpersonenhaushalten in Deutschland befällt. Denn wie könnte es sonst anders sein, dass stets zwei Neujahrswerbemotive auf die Jahresendstimmung überall sichtbar folgen: Körperliche Verschlankungs- und digitale Verkupplungsangebote. Wohl eine Art Königsweg zu einem konventionell guten Leben? Vermutlich kann nicht jeder behaupten, dass er ein unkonventionell erfülltes Leben l(i)ebe …

Erweiterter Liebesbegriff vs. Nestinstinkt

Als andere Art der Liebe, die der Autor hegt und pflegt, kann die Philia verstanden werden. Im Allgemeinen besteht der Liebesbegriff aus den drei Blickwinkeln »Eros« (erotische Liebe), »Philia« (Freundesliebe) und »Agape« (göttliche Liebe). Nicht zuletzt stellt auch Schreiber fest, dass das kollektive Bewusstsein überwiegend dem Narrativ der romantischen Liebe – sei es als Lektüre oder Film – begegnet, wodurch die Freundesliebe eher einen stiefmütterlichen Stellenwert erhält, der dem Anschein nach nicht mehr zeitgemäß sei.

„Freundschaften […] gehören dieser Tage zu unseren »Praktiken der Selbstreparatur«. […] Neueren soziologischen Forschungen zufolge sind sie nicht als eine Beziehungsart, sondern als eine »Familie abstrakter Beziehungsformen« zu verstehen, als ein »Geflecht graduell miteinander verwandter Sozialformen“.      

Allein, S. 19

Umso weitreichender gestaltet sich dann der pandemische Umstand, der sich nicht nur wie ein Pflug durch die gesellschaftliche Lebensgestaltung gräbt, sondern auch die Gedankenbeete durchschreitet. Im Ergebnis ergibt das ein Wiedererstarken des Nestinstinktes, wodurch das Single-Ich auf sich selbst zurückgeworfen wird und das saisonale Einsamkeitsaufkommen in einen Schwellenzustand transformiert wird und zunächst interrogative Unkrautsamen sprießen lässt.

„Aus einer vorübergehenden Distanz wurde etwas, das sich wie eine dauerhafte Distanz anfühlte, eine Distanz, von der man nur theoretisch wusste, dass sie einmal enden würde. Letztlich brachte die liminale Zeit der Pandemie mit sich, dass unter anderen Vorzeichen eine für mich alte Frage wieder in den Vordergrund trat: Ist das Modell eines Lebens in Freundschaft nur auf eine Lebensphase beschränkt? Auf die Phase der Jugend und des jungen Erwachsenenseins? War ich zu alt geworden, um ein solches Leben zu führen?“

Allein, S. 76

Buntscheckige Selbsterkundung

Von der aufkommenden Frage der Lebensführung geht eine tief- und weitreichende Erkundung aus. Von den zahlreichen Denkerinnen und Denkern, die von Schreiber zu den Themen Einsamkeit und Freundschaft eingestreut werden, mag an dieser Stelle lediglich auf Montaigne verwiesen werden. In seinem ersten Essay des zweiten Buches heißt es: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so lose und locker aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst, wie zwischen uns und den anderen.“

Hieran lässt sich die weiterführende Selbsterkundung programmatisch andeuten: Schreiber beleuchtet das Feld (s)eines eigentlichen und pandemisch uneigentlichen Selbst sowie die eigentlichen und uneigentlichen Zustände zwischen sich und den anderen. Jedoch ist der Aktualitätsbezug vielmehr als situative Ergänzung zu einer essayistisch-kritischen Meditation über das Alleinsein, die Einsamkeit und die Freundschaft überhaupt zu verstehen. Auf vielseitige Art und Weise geht es um den Umgang mit diesen Sphären des Lebens, die uns allesamt früher oder später, freiwillig oder nicht, begegnen.

„Die Wahrheit ist, dass auch schmerzhafte Emotionen Geschenke für uns bereithalten. […] häufig bringen sie uns Dinge bei, die wir anders nicht lernen würden. Einsamkeit, schreibt der Psychologe Clark E. Moustakas, habe trotz ihrer Schrecken immer auch etwas zutiefst Positives.“

Allein, S. 122

Lesenswert?

Im Gegensatz zu manch anderer Rezension wird die Fülle der literarischen Verweise – eben wegen der feinen Dosierung im Text –-  als angenehm positiv bewertet. Wen die dezenten Hinweise und Einblicke weiter interessieren, der findet im ausführlichen Inhaltsverzeichnis genügend Dünger.

Wenn du dich nun wunderst, weshalb der Autor dieses Artikels so wenig über die Einsamkeit und das Alleinsein geschrieben hat, dann könnte es daran liegen, dass er das Auspacken der Geschenke

(d)einer eigenen Lektüreerfahrung überlassen möchte.

In gewisser Weise schlägt die behandelte Dimension des Freundschaftsbegriffes bei Daniel Schreiber eine Brücke zu Bronnie Wares Empfehlung, den Kontakt zu seinen Freunden nicht zu verlieren.

In diesem Sinne: STAY IN TOUCH WITH YOURSELF AND YOUR FRIENDS

Weitere Informationen über Daniel Schreiber findest du hier:

https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/daniel-schreiber/

Allein mit Daniel Schreiber und Gabriele von Arnim im Gespräch:

Allein von Daniel Schreiber (20 Euro)

Schreibe einen Kommentar