Gap Year in Australien, Weltreise mit dem Fahrrad oder Zweitwohnung auf Mallorca – nie war es so einfach, fremde Kulturen zu entdecken wie heute. Die Globalisierung fordert sowohl privat als auch beruflich ein hohes Maß an Mobilität und stellt uns dabei immer wieder vor die Frage, ob es überhaupt noch eine Heimat gibt.
Heimat bedeutet Pfannkuchen, wohlfühlen, der Ort der eigenen Wurzeln, Geborgenheit, das stets gleiche Ticken der elterlichen Wanduhr, ein eigener Kontinent, Filterkaffee! Im Rahmen der ARD-Themenwoche 2015 wurden sowohl Schauspieler als auch Passanten auf der Straße gefragt, was sie mit dem Wort Heimat assoziieren. Die Ergebnisse dieser Umfrage waren ebenso vielfältig wie die Befragten.
In einer Welt, in der globaler gedacht wird denn je, wird die Definition des Begriffs Heimat nicht mehr lediglich in die Grenzen des Ortes gefasst, in dem man aufgewachsen ist, sondern sie wird viel mehr mit einem Lebensgefühl gleichgesetzt. Der Kosmopolitismus hat sich insbesondere in den heranwachsenden Generationen zu einem neuen Trend entwickelt. Weltbürger sein und die ganze Welt als sein Zuhause anerkennen ist das moderne Heimatgefühl. Doch was genau ist die Heimat von heute? Zersplittert sie in dem kosmopolitischen und individualistischen Denken der Moderne oder hat sich die Bedeutung des Begriffs nur gewandelt oder womöglich sogar vertieft?
Um dem Begriff Heimat auf den Grund gehen zu können, sollte man zunächst erörtern, welche ursprüngliche Bedeutung er hatte. Heimat ist eine Ableitung von Heim, was ein Synonym für Wohnung, Welt oder auch Dorf ist. Diese ursprüngliche Definition aus einem etymologischen Wörterbuch des Jahres 1889 beschreibt den Begriff Heimat als einen physisch greifbaren Ort, der die Behausung und Beheimatung eines Menschen darstellt. Zugleich ist es ein Wohnrecht, was besagt, dass man in dem Ort, in dem man geboren worden ist, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht hat. Finanziell Bedürftige haben ein Recht auf Unterstützung ihrer Gemeinde.
Heutzutage ist dieses Heimatrecht nicht mehr relevant, da es von dem Recht auf Freizügigkeit abgelöst worden ist. Demnach darf jeder Bürger des deutschen Staates innerhalb von Deutschland und mittlerweile auch innerhalb der Grenzen der EU seinen Wohnsitz frei wählen. Früher wurde die Heimat also auf den Wohnort beschränkt, in dem man geboren worden ist, während man heute, rein rechtlich gesehen, den Staat als Heim gelten lässt. Man ist kein Husumer, Berliner, Bremer oder Kieler, sondern man ist Deutscher oder sogar Europäer.
Die Heimat gewinnt also an physischem Ausmaß, das für einen einzelnen Bürger kaum greifbar ist. Ein Dorf oder auch eine Stadt als Heimat zu bezeichnen ist überschaubar und meist kennt der Einwohner jedes gute Restaurant, jede Straße, die den Feierabendverkehr umgehen lässt, die besten Bademöglichkeiten und er weiß, wo welche Art von Menschen wohnen. Doch ein Land mit einer Fläche von 357 375,62 km² und über 82 Millionen Einwohnern, kann man nicht überschauen.
Wenn ein Norddeutscher nach Bayern kommt, dann fühlt es sich für ihn wie eine Reise ins Ausland an. Und wenn ein Großstädter aus einer Stadt wie Berlin, Urlaub im überschaubaren Dithmarschen oder Nordfriesland macht, dann wird er dieses keineswegs als seine Heimat empfinden, auch wenn es rechtlich gesehen diese ist. Er kennt das Landleben nicht, fragt sich wieso die Kühe auf den Feldern so merkwürdige Schilder im Ohr haben und ist unterfordert mit der allumfassenden Langsamkeit und Ruhe, die auf dem Land zu regieren scheint. Der Norddeutsche grüßt in Bayern höflich mit einem „Moin Moin!“ und wundert sich über die missverständlichen Blicke und die Grüße an Gott, die er dafür empfängt. Von Heimat kann hier keine Rede sein.
Heimat scheint also mehr zu sein als ein physischer Bereich, in dem man wohnhaft sein darf. Wenn man sich die Kommentare der Befragten im Rahmen der ARD-Themenwoche noch einmal vor Augen hält, wird schnell deutlich, dass niemand einen rechtlich abgegrenzten Raum unter Heimat versteht. Es sind eher Kleinigkeiten aus dem Alltag, wie bestimmte Gerüche, Geräusche oder Geschmäcker, die das Gefühl zuhause zu sein vermitteln.
Nach diesen Aussagen zu urteilen ist Heimat vielmehr eine sinnliche Erfahrung, als eine Staatsangehörigkeit. Dinge oder Routinen, die durch ihre stete Präsenz im aktuellen oder bereits vergangenen Alltag ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, leben in der Erinnerung an die Heimat viel stärker als eine bloße Örtlichkeit.
„Ich glaube, so seltsam es klingt, dass dieses Kännchen noch ganz wichtig für mich werden könnte. Es könnte ein ambulantes Zuhause für mich werden, ein kleiner wärmender Trost, wenn ich einen Durchhänger habe.“ – so beschreibt die weltreisende Journalistin Meike Winnemuth die Bedeutung einer kleinen silbernen Teekanne, die sie bei ihrer 1-jährigen Weltreise stets im Gepäck mit sich trägt. Egal in welcher Stadt sie grad ihre Abenteuer erlebt, jeden Morgen serviert sie sich in dieser Kanne und den immer gleichen Morgenmantel tragend den ersten Tee. Ein Ritual, welches ihr Halt und das Gefühl von Heimat vermittelt und das, obwohl sie sich selbst in einem völlig fremden Lebensraum befindet.
Besonders in der Ferne erhält die Heimat eine tiefere Bedeutung. Bernhard Schlink, ein deutscher Schriftsteller, beschreibt es treffend in seinem Aufsatz „Heimat als Utopie“: „Die statistisch ermittelten elementaren Erfahrungen des Wohn- und Geburtsorts, des Orts der Familie und der Freunde als Heimat werden aus der Distanz gemacht. Erst aus der Distanz wird das Selbstverständliche erfahrbar- die Atemluft erst in der Atemnot und der Stand und Halt, den die Festigkeit der Erde gibt, erst auf dem Schiff, im Flugzeug oder wenn die Erde bebt“.
Wenn das Selbstverständliche auf einmal nicht mehr präsent ist, dann wird dieses benennbar. So ist es sowohl bei einem gewissen Urvertrauen in die Unerschütterlichkeit der Erde, wenn man auf einmal den Boden unter den Füßen verliert, als auch bei dem Gefühl von Geborgenheit in einer Familie, wenn diese auf einmal durch beispielweise eine Scheidung oder einen Todesfall ins Wanken gerät. Eine lange Reise ruft oft die Sehnsucht nach Vertrautem hervor. In einsamen Momenten wird einem schmerzlich bewusst, wie wertvoll die Zugehörigkeit in der eigenen Familie oder im Freundeskreis ist.
Die starre Definition aus dem etymologischen Wörterbuch aus dem Jahr 1889 scheint für das heutige Heimatempfinden nicht mehr dienlich zu sein. Besonders als Deutscher genießt man die Möglichkeit, überallhin zu reisen, und darf sich überall auf der Welt zuhause fühlen.
Das Verb „fühlen“ spielt in der neuen Definition eine wohl größere Rolle, als physische Grenzen. Pfannkuchen oder das Ticken der Wanduhr der Eltern sind Geräusche und Geschmäcker, die man mit Geborgenheit, friedlicher Routine und Zugehörigkeit verbindet und genau dieses Empfinden soll jeder modernen Definition von Heimat zugrunde gelegt werden.
In Zeiten der Globalisierung, die ein hohes Maß an Mobilität von der Gesellschaft abverlangt, ist das Gefühl von Heimat stärker denn je, denn wie das Zitat von Schlink zeigt, wächst die Sehnsucht nach Gewohntem und Ritualen, wenn der Boden unter den Füßen ins Wanken gerät. Der Abstand von einem gewohnten Umfeld führt letztendlich dazu, dass man es viel deutlicher spüren und definieren kann, was zu einer bewussten Wahrnehmung der eigenen Heimat führt.
Wie die Journalistin Winnemuth zeigt, muss nicht nur der moderne Lebensstil mobil werden, sondern auch vermeintlich banale Gewohnheiten, wie der morgendliche Teegenuss im immer gleichen Outfit, in immer demselben Geschirr serviert. Auf diese Weise gewinnt die Heimat an Flexibilität und gibt dem modernen Menschen Sicherheit.
Überschaubarkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität dieser Rituale vermitteln in Zeiten der Unruhe und Unbeständigkeit das Heimatgefühl, was die Menschen aus dem Jahr 1889 kaum nachempfinden konnten. Sie erlebten diesen Abstand zum gewohnten Umfeld nie. So konnten sie ihre Heimat nicht auf die Weise fassen, wie wir es heute mit jedem Geruch, jeder Regelmäßigkeit, jeder in der Ferne gehörten Nationalhymne, jedem am anderen Welt erinnerten Geschmack von Pfannkuchen spüren können.
Passend zu diesem Artikelthema gibt es auch ein Gedicht in der Kategorie dichtbar: https://www.denkbar.net/2020/09/20/heimatlos/
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Ich bedanke mich für diesen Artikel, denn er hat mich sehr berührt. Ihre Gedanken sind tiefgründig, zutreffend, emotionalisierend.
Ihre Worte ansprechend und landen unter der Haut, während mein Geist auf Reise geht beim Lesen und mir innere Bilder von „unterwegs“ schickt. Danke für diese Erfahrung!
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